Montag, 24. Juli 2017

Ein Spätberufener hat ein beeindruckendes Œvre vorzuweisen

Martha; Profesor Hübner; N-ai de gând, domnule, să laşi garda jos? (Gedenkst du nicht, dich endlich wehrhaft zu zeigen?); Nu-l blamaţi pe ambiţios! (Blamiert nicht den Ambitionierten!) und Cu hora nainte (Mit der Hora vorwärts).

Das sind die Titel von fünf Romanen, die ein Autor bisher geschrieben hat, obwohl er erst mit 68 Jahren debütierte. Ştefan Ehling heißt der pensionierte Rumänischlehrer. Seinen ersten Roman, Martha, veröffentlichte er im Jahre 2008 im Temeswarer Verlag Marineasa. Und der bekam gleich den Debütpreis des Rumänischen Schriftstellerverbandes (USR). Auch sein zweites Buch wurde drei Jahre später für den Literaturpreis der Zeitschrift OBSERVATOR CULTURAL nominiert.

Martha wurde in der Novemberausgabe 2008 der Temeswarer Literaturzeitschrift ORIZONT ausführlich von Veronica-Alina Constănceanu besprochen. Die Rezensentin spricht von einem „massiven Roman, der nur der erste aus einem wahrhaften Epos, das die Geschichte der Banater Schwaben wiedergeben soll, ist“. Der Roman handelt von der Deportation in die sowjetischen Arbeitslager am Donbas und der Autor hat seine eigene Familiengeschichte literarisch verarbeitet, sind doch sowohl sein Vater als auch seine Schwester im Arbeitslager gestorben.

Die Handlung des Romans ist auf einer Liebesgeschichte aufgebaut. „Die Liebe zwischen Martha Gröber, die Tochter des Direktors vom Deutschen Lyzeum in Temeswar, und Hansi Jung, der Sohn eines wohlhabenden Schwaben aus Jahrmarkt (Giarmata), bilden den Kern, um den sich alle in diesem Buch geschilderten Ereignisse drehen.“ Der bekannte Literaturkritiker Cornel Ungureanu schreibt im Vorwort von einer „Love Story in einem russischen Lager“. Veronica-Alina Constănceanu schlussfolgert: „Das Buch Ştefan Ehlings hat das Verdienst, die Leiden der Banater Schwaben zu schildern, aber im Grunde ist ihre Geschichte auch unsere.“

In der Zeitschrift ORIZONT wird in der Novemberausgabe 2010 auch sein zweiter Roman, Profesor Hübner, in einer Rezensionsfolge mehrerer rumänischer Neuerscheinungen besprochen. Hier erfahren wir, dass Ştefan Ehling am 4. November 1940 in Mănăştur im Kreis Arad geboren wurde und an der Universität Temeswar Philologie studiert hat.

Es handelt sich bei diesem Buch, Profesor Hübner, das eigentlich Teil einer Trilogie ist, eindeutig um Erinnerungsliteratur, ohne dass es „in Gänze die Eigenschaften der Memoirenbände aufweist“, schreibt Rezensent Alexandru Ruja und unterlegt seine These mit einem ausführlichen Zitat aus dem Roman: „Der Gedanke, meine Memoiren zu schreiben, begann mich nach dem Tode Lenis zu beschäftigen, meine zweite Frau und die Mutter von Stefan und Robert, unsere Söhne. Fünfunddreißig Jahre habe ich glücklich (könnte ich sagen) im Kreise der Familie, die ich in der österreichischen Stadt Graz nach meiner Ausreise aus Rumänien gegründet habe, gelebt. Als Banater Schwabe aus Jahrmarkt (Giarmata), ein großes und reiches Dorf aus der Nähe von Temeswar, wurde ich im Januar 1945 in die Sowjetunion zur «Wiederaufbauarbeit» deportiert. Nach vier Jahren Deportation, konnten wir, die die Knechtschaft, im Jargon der Zeit «das große Freundesland aus dem Osten» genannt, überlebt haben, nach Rumänien zurückkehren. Und dann hat Onkel Stefan, seit mehr als einem viertel Jahrhundert in Graz zu Hause, es geschafft, Vater zu überzeugen, meiner endgültigen Ausreise nach Österreich zuzustimmen.“ 

Natürlich wurde ein 1940 geborener Junge nicht 1945 deportiert. (Die jüngsten deportierten Jungen waren die 17-Jährigen.) Der Memoirenton des Romans gliedert sich aber anstandslos in ein in Rumänien noch immer sehr beliebtes Literaturgenre ein: die Erinnerungsliteratur (literatura de jurnal), die besonders nach dem Sturz des Kommunismus einen Höhenflug erlebte. Gute Literatur war schon immer auch gut getarnte Fiktion. Und das scheint auch Ştefan Ehling stellenweise hervorragend gelungen zu sein, denn anders würden die Rezensenten nicht so ausdrücklich auf den autobiographischen Charakter seiner Romane hinweisen. Plot und Gestalten sind Fiktion, aber die Botschaft, die sie transportieren, entstammen dem Wesen des Autors, seiner Kindheit und Jugend und späteren Lebenserfahrungen im kommunistischen und postkommunistischen Rumänien

Im März 2011 nimmt sich Eugen Bunaru in ORIZONT ausführlicher des Romans Profesor Hübner (Verlag Marineasa) an. Hier erfährt man, dass dieses Buch, 407 Seiten, zeitlich eigentlich vor Martha angesiedelt ist. Der Ich-Erzähler heißt Hansi Jung, ein Musiker mit ehemaliger Aktivität im Grazer Symphonieorchester. Seine Kindheit und Jugend verbringt er in Jahrmarkt (Giarmata) und Temeswar. Der Rezensent scheut selbst Vergleiche mit Thomas Mann und Robert Musil nicht, wenn er von Ştefan Ehlings Schreibweise spricht. Man habe es hier mit einem Roman der Multikulturalität, aber auch mit einem Antikriegsbuch zu tun. Auch als „sehr guter Porträtist“ gäbe der Autor sich zu erkennen. Eugen Bunaru schlussfolgert, dass dieser Roman „eine Meditation über Geschichte und die Verheerungen des Krieges sind, eine mögliche Mahnung gegen das Vergessen.“

Im Jahre 2012 ist dann der dritte Band dieser Romantrilogie bei ArtPress erschienen: N-ai de gând, domnule, să laşi garda jos? (Gedenkst du nicht, dich endlich wehrhaft zu zeigen?). Lucia Jucu-Atanasiu hat das Buch im Mai 2013 in der Zeitschrift ORIZONT besprochen. Die Autorin betont den autobiographischen Charakter des Romans und zählt die Ştefan Ehling nahestehenden Personen auf, deren Schicksale die Handlungsstränge des Romans beeinflusst haben. Wortwörtlich schreibt sie: „Zu den Unglücklichen, die auf sowjetischem Boden verstorben sind, gehörten auch Mitglieder der Familie Ehling: der Vater des Autors, Johann Ehling, gestorben im Donbas im Jahre 1947, seine Schwester Anna, Onkel Anton, Tante Barbara und Vetter Nikolaus. Dazu kommt der an der Front gefallene Bruder des Schriftstellers. Das Leben des Autors steht unter dem Zeichen dieses tragischen Ereignisses im Leben der Deutschen aus dem Banat und sein literarisches Werk ist die Erfüllung einer familiären Pflicht des Siebzigers von heute.“

In diesem dritten Band kehrt der in Graz lebende Hansi Jung (eindeutig das Alter Ego des Autors) nach Jahrmarkt zurück. Man schreibt das Jahr 1978 und Jungs Vater ist in seinem Heimatdorf  im Alter von 86 Jahren verstorben. Das sind jene Augenblicke der Rückbesinnung, ohne die wohl kein Mensch auskommt. Auch Lucia Jucu-Atanasiu zeigt sich beeindruckt, denn sie zitiert umfangreich aus Jungs Seelenleben und erwähnt den „lyrischen“ Ton dieser Textstelle: „Seit ich in Österreich in einer schönen und reichen Stadt wohne, erlebte ich das in der Literatur als Entwurzelung apostrophierte Gefühl nicht. Manchmal aber denke ich an mein Dorf, an die Menschen, die ich in der Kindheit und Jugendzeit kannte, und dann strömt mir eine schmerzhafte Woge wie ein elektrischer Strom durch Gehirn und Herz. Besonders seit Leni gestorben ist, bewegt mich das Gefühl der Einsamkeit, das mich immer öfter heimsucht, dazu, in Gedanken bei den Lieben zu weilen, die es nicht mehr gibt, und an den Orten, die mir mit einer goldenen Aura in der Erinnerung erhalten geblieben sind.“ Als Fazit hält die Rezensentin fest: „Historischer Roman, Gesellschaftsroman, Familienroman, Liebesroman - Gedenkst du nicht, dich endlich wehrhaft zu zeigen? verdient es, von einem breiteren Publikum gelesen zu werden.“

Ştefan Ehling hat so manchen Literaturkritiker in Rumänien beeindruckt. Marian Odangiu sieht den pensionierten deutschen Rumänischlehrer in einer Reihe mit Mikkel Birkegaard, Alasdair Gray, Paulo Coelho, Orhan Pamuk, Ioan Petru Culianu, Constantin Ţoiu oder Marin Preda (ORIZONT, 2/2015) und Simona-Grazia Dima schrieb schon nach dem Erscheinen seines ersten Romans in ROMÂNIA LITERARĂ, 37/2008 von einer „Zivilisationslektion mit überlegener Moral, die, glauben wir, das größte Verdienst dieses Dokumentars darstellt.“ 

Und warum spielt gerade Jahrmarkt (Giarmata) als Heimat des Ich-Erzälers Hansi Jung eine Rolle in dieser Romantrilogie? Auf diese Frage habe ich leider keine Antwort gefunden - weder in Franz Jungingers Ortssippenbuch der katholischen Pfarrgemeinde Jahrmarkt / Banat (obwohl der Name Ehling einmal vorkommt) noch in Luzian Geiers Deportationslisten in dem Jahrmarkter Heimatblatt Deportation 1945. Diese Frage kann der Autor nur selber beantworten. In der in Reschitza erscheinenden Zeitschrift împreună, miteinander, együttesen (Nr. 32 / November 2010) kommt der Autor zwar sehr ausführlich zu Wort, seine Beziehung zu Jahrmarkt (falls es überhaupt eine gibt) bleibt aber im Dunkeln.

Ștefan Ehling
Fotoquelle: USR, filiala Timișoara
In einer Kurzvita des Rumänischen Schriftstellerverbandes heißt es, dass Ştefan Ehling nach dem Besuch der Grundschule „im Heimatort“ – ob damit allerdings Mănăștur oder Grabatz, wie es in anderen Quellen heißt, gemeint ist, wird nicht präzisiert – von 1952 bis 1959 die Pädagogische Schule (Școala pedagogică din Timișoara) besucht hat und auf der Philologiefakultät der Universität Temeswar die Studienfächer Deutsch und Rumänisch belegt hat (1959 – 1964). Danach war er Rumänischlehrer in Grabatz (nach anderen Quellen hat er auch Deutsch unterrichtet) und anschließend von 1968 bis 2006 unterrichtete er an mehreren Schulen in Drobeta Turnu-Severin. In den Jahren 1968 und 1969 sowie von 1990 bis 1994 war er auch Schulinspektor. Ştefan Ehling ist Mitglied des Rumänischen  Schriftstellerverbandes (USR). Seine Frau Maria Ecaterina Ehling unterrichtet die Fächer Rumänisch und Französisch. 

Als ehemalige Jahrmarkter dürfen wir auf jeden Fall stolz sein, im wohl umfangreichsten belletristischen Werk in rumänischer Sprache, das sich ausführlich mit der Deportation der Banater Schwaben in sowjetische Arbeitslager befasst, als Kulisse eine nicht unwesentliche Rolle spielen zu dürfen. Und sollte sich eines Tages herausstellen, dass Ştefan Ehlings Wurzeln doch auch nach Jahrmarkt führen, dann hätten wir neben Adam Müller-Guttenbrunn schon den zweiten bedeutenden Romancier, dessen Abstammungsgemälde auch einen Jahrmarkter Farbtupfer trägt. Nebenbei könnte so langsam aus dem Musikantendorf auch noch ein Literatendorf werden. Zu spät ist es eigentlich nie - solange sich noch ein Altjahrmarkter zu seiner Abstammung bekennt.
Anton Potche

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen