Schönherr-Mann/Jain/Beilhack
(Hg.): Rumford 11A – Der philosophische Rau(s)chsalon 2008-2012; „edition
fatal“ Verlagsgesellschaft bR, München, 2012; ISBN 978-3-935147-24-8; 284
Seiten; 21,-- EUR. (bei Amazon am 28.10.2016)
Der Salon ist tot. Es lebe der Salon. Die Zeiten, als ein Geza von Czifra viel Zeit in den
Berliner Salons der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts verbrachte, sind nur noch
anekdotenreiche Geschichte. Aber nicht die Salons. Zumindest einen dieser Debatiersalons
gibt es heute noch in München. Er befindet sich in der Wohnung des Philosophen Hans-Martin Schönherr-Mann, und es
würde ihn in dieser Form nicht geben, hätte die bayerische Staatsregierung
nicht im Jahre 2007 ein von den Bürgern erzwungenes Rauchverbot eingeführt. Im
philosophischen Rau(s)chsalon des Herrn Schönherr-Mann
darf man nämlich rauchen und philosophieren, wahrscheinlich sogar in einem
Rausch, denn laut Initiator „fließt der Wein […] von Anfang an“. Dort werden Vorträge
„von den Teilnehmern gehalten“, wobei „Zuschauer, also Touristen nicht
zugelassen“ sind.
Also hätte ich, dessen berufsbezogenes Denken sich
zeitlebens um Quantität und Qualität von ZKGs (Zylinderkurbelgehäuse oder
schlicht und einfach Motorblocks) drehte, dort keinen Zugang. Umso neugieriger
war ich natürlich, was Quantität und Qualität in der berufsmäßigen Philosophie
bedeutet. Diese wird nämlich im Rau(s)chsalon in der Rumfordstraße hergestellt.
Oder nur gedacht und eventuell niedergeschrieben, denn bis zum Herstellen kommt
man in den rauch- und weingeschwängerten „Smalltalks“ nicht. Macht nichts. Auch
wenn ich mich mit meinem Zwischenprodukt (das Endprodukt rollt über die Straßen
dieser Welt) auf einer höheren Herstellungsstufe als die philosophierenden
(anscheinend berufsmäßig, wo es sich doch um Professoren und Studenten handelt)
Salonbesucher wähne, schlug ich den Sammelband Rumford 11A – Der philosophische Rau(s)chsalon 2008-2012 mit einem
schon fast voyeuristischen Eifer auf – aber bitte, ganz vorurteilsfrei, ohne
jedweden geringschätzigen Abwehrmechanismus. In dem Buch sind die (oder einige)
Beiträge dieser Salonarbeit abgedruckt. (Man kann sie auch online bei www.edition-fatal.de lesen.)
Also, los geht’s! Philosophie pur! Eine fast schon
abenteuerliche Entdeckungsreise für einen pensionierten Schichtarbeiter konnte
beginnen:
1.) Hans-Martin
Schönherr-Mann (1.Salon, 31 Januar 2008): Das Dionysische als das gute Böse. Ein Zitat: „Ohne Rausch keine
Individualisierung, die des Trüben bedarf, immer dorthin abgeleitet! Ohne
Rausch keine ökonomische Effektivität! Keine soziale Liberalität! Ohne Rausch
gibt es nur Null-Tolleranz.“ Unter dem Text meine Bleistiftnotiz – also zu
jeder Zeit ausradierbar: „Hilfloses und nicht überzeugendes Plädoyer für das
Rauchen im Speziellen und den Rauschzustand im Allgemeinen. Nein, damit kann
ich nichts anfangen“, auch wenn der Verfasser Essayist und Professor für
Politische Philosophie an der Ludwig-Maximilian-Universität in München ist. Als
ich noch Tanzmusik machte, gab es noch kein Rauchverbot. In jener Zeit hatte
meine Frau mir beigebracht, meine Musikantenkleider immer gleich in den Keller
vor die Waschmaschine zu werfen und erst dann in die Wohnung zu kommen – weil
ich angeblich so gestunken habe. Ob ich damals mit philosophischen
Raucherrechtfertigungen besser gefahren wäre, bleibt zu bezweifeln.
2.) Hans-Martin
Schönherr-Mann (3. Salon, 17. April 2008): Kein gutes Leben ohne Verrat: Ergo verratet alle eure Götter! Beim
Lesen habe ich mich gefragt, warum ein Perspektivwechsel, eine Meinungsänderung
ein Verrat sein sollte. Versteht man unter „verraten“ nicht „ausliefern“? Man
kann seine Meinung doch auch ändern, ohne diese (oder sich) gleich dem Galgen
auszuliefern.
3.) Mario Beilhack
(4. Salon, 12. Juni 2008): A Space
Odyssey – Die mediale Verfasstheit der Welt. Wir erfahren unter anderem,
dass „medial“ keine „Festlegung auf die Medien, die wir heute als
Informations-, Kommunikations- oder Unterhaltungsmedien bezeichnen“, ist,
sondern bedeutet, „dass etwas mit uns und unserer Umwelt geschieht, wenn wir
Medien nutzen“. Wie wahr!
4.) Matthias Hofmann
(6. Salon, 3. Dezember 2008): Die
Ausnahmeschutzverletzung als Destabilisierung der Lebenswelt – Der lahmende
Computer als Krise der Rationalität. Es sind zwar acht Jahre seit dem
Entstehen oder Vortragen dieses Essays vergangen. Das ist in der IT-Welt eine
kleine Ewigkeit, aber mein heutiges Erleben mit diesem „Monster des
Zauberlehrlings“ (Computer) ist auch heute das Gleiche wie hier geschildert.
5.) Michael Löhr (7.
Salon, 11. Februar 2009): Wa(h)re
Schönheit – von Kant zurück zu Platon und Laotse: François Chengs „unkritische“
Meditationen über Schönheit. Zitat: „Die Einmaligkeit eines jeden kann sich
nur im Angesicht und dank der Einmaligkeit der Anderen ausbilden, behaupten und
einen Sinn bekommen.“ Wenn doch alle Menschen diese Wahrheit beherzigen
könnten. Wir hätten keine Konflikte auf unserer Erde.
6.) Hans-Martin Schönherr-Mann (8. Salon,
1. April 2009): Die wahre Schönheit als
ein Oberflächenphänomen oder Von der unmöglichen Innerlichkeit der Schönheit.
Schönherr-Mann behauptet in diesem
Essay, dass Schönheit „nichts mit Liebe zu tun“ hat, „wiewohl sie gelegentlich
in dieser Hinsicht anregend wirkt.“ Ich habe diesen Satz mit einem Fragezeichen
versehen. Er wirft wahrscheinlich nicht nur aus meiner Sicht mehr Fragen als
Antworten auf.
7.) Anil K. Jain (9. Salon, 26. Mai
2009): Capitalism Inc. – Der „phagische“
Charakter des Kapitalismus. Obwohl ich dankbar bin, im Kapitalismus leben
zu dürfen, scheue ich mich nicht, fast alles, was in diesem systemkritischen
Text steht, zu unterschreiben, auch dass der Kapitalismus „unermessliche Gier“
und „Trieb nach unbegrenzter, unaufhörlicher Expansion“ bedeutet.
8.) Michael Löhr (11.
Salon, 23. September 2009): Der Traum ist
mehr als bloße Wunscherfüllung! Christoph Türcke über die Geburt des Menschen
aus dem Schrecktraum. Ziemlich schwere Kost, was der Autor hier serviert.
Es zeigt sich schnell, wie schwimmend die Grenzen zwischen Philosophie und
Psychologie sind. Dem Kern des Problems dürfte aber jeder schon im Leben näher
gekommen sein: durch einen schlechten Schlaf, garniert mit einem bösen Traum.
9.) Michael Ruoff
(12. Salon, 8. Dezember 2009): Ein
Physiker plaudert aus dem Nähkästchen. Das ist ein Beitrag über das
Innenleben der wissenschaftlichen Institutionen. Achtung! Auch dort arbeiten
Menschen – solche und solche. Und es geht zu wie einst bei uns an den
Produktionsanlagen. Das ist ein beruhigendes Gefühl. Mensch bleibt eben Mensch.
10.) Anil K. Jain (16. Salon, 29. September
2010): Die kontingente Gesellschaft und
die Notwendigkeit der Utopie. Zitat: „Kontingenz bedeutet, wie ausgeführt,
ja immer zugleich auch Begrenztheit, da Möglichkeit erst durch Begrenzung
hervortritt.“ Das ist nur einer der unzähligen Begriffe, die erklärt werden
müssen. Hier macht das der Autor selber. In vielen anderen Fällen hilft nur der
Griff zum Duden oder Fremdwörterbuch.
11.) Stefan Bolea
(18. Salon, 23. Februar 2011): Gedichte.
Erfreulich: Auch die Lyrik hat Zugang zum Rau(s)chsalon. Das hat vielleicht
auch damit zu tun, dass der Dichter in diesem Fall auch Doktor der Philosophie
an der Babeş-Bolyai-Universität in Klausenburg (Cluj Napoca) / Rumänien ist.
12.) Michael Löhr (19.
Salon, 7. April 2011): Versuche über
Gleichgültigkeit. Also dieser Text transportiert schon Thesen, denen man
nur schwer folgen kann. Auch wenn es da zum Beispiel heißt: „Da alles Denken
für Pessoa Zerstören heißt, ist eigentlich derjenige am glücklichsten, der gar
nicht denkt.“ Wie heißt es doch im Volksmund: „Überlass das Denken den Pferden,
die haben einen größeren Kopf.“
13.) Michael Ruoff
(20. Salon, 8. Juni 2011): Die retteritorialisierte
Theorie. Um es kurz zu machen: Theorie ist weitgehend alles, was es in
dieser Aufsatzsammlung zu lesen gibt. Das hier ist ein Versuch, Philosophie
über den Dialog zu vermitteln. Man muss halt mit gutem Willen an die Sache herangehen,
dann kommt man auch bei diesem Text unbeschadet zum Schlusssatz, der da lautet:
„Schalten Sie lieber den bewährten Nachbrenner ein: Odysseus im Luftkissenboot
– das ist sicher.“
14.) Michael Löhr (22.
Salon, 26. Oktober 2011): Zeit und Bild –
Heidegger, Benjamin und Mitchell über das Wesen des Bildes. Beim Lesen
dieses Essays lag die Digitalkamera vor mir auf dem Tisch. Ein Alltagsgerät mit
einem Chip voller Bilder. Zum Glück haben sie keine Symbolkraft. Andernfalls
würden sie der in diesem Beitrag angestellten philosophischen Betrachtung
unterliegen: „Hier wird die Symmetrie deutlich, die zwischen Ikonokasmus und
Idolatrie besteht, und zwar, dass schöpferisches Zerstören sekundäre Bilder
erzeugt, die auf ihre Weise nun Formen von Idolatrie darstellen, die unter Umständen
noch mächtiger sind, als die zerstörten Idole.“ Mir fielen spontan die
IS-Milizen in Syrien beim Zerstören antiker Kunst ein und ich fragte mich, ob
die ihrer Zerstörungswut auch dann freien Lauf gelassen hätten, wenn sie ihr
Vernichtungswerk nicht hätten filmen und via Internet in die Welt schicken
können. Aber wie sagte schon mein Großvater: „Nobel geht die Welt zugrunde.“
15.) Linda Sauer
(24. Salon, 25. Januar 2012): Das Böse –
Glanz und Abglanz einer diabolischen Versuchung. Der Facettenreichtum des
Bösen ist hier zu erkennen. Es ist schon merkwürdig (oder auch nicht?): Ich zog
beim Lesen dauernd Parallelen, stellte Vergleiche an, zog Fäden zu diesem und
jenem, stellte mir Fragen … und vergaß dabei, mich selber zu hinterfragen. Das
ist ein böser Essay. Aber wie könnte er auch anders sein, wo er doch vom Bösen
handelt.
16.) Michael
Bräustetter / Maximilian Hartung
(25. Salon, 29. März 2012): Wer denkt
wen? Von diesseitigen Gedanken, Geständnistieren und Autoren. Die
Fragestellung formulieren die Autoren so: „Taugt die Biographie zur Erhellung
des Werks oder gar das Werk zur Erhellung der Biographie?“ Die Antwort
unterliegt natürlich auch hier der philosophiespezifischen Ambivalenz. Man kann
den Autoren und den von ihnen zitierten Sommitäten mal folgen und mal nicht. An
einer Stelle heißt es zum Beispiel: „Aber folgt man Foucault, dann ist es
falsch, den Autor beim wirklichen Schriftsteller oder beim fiktionalen Sprecher
zu suchen – der Autor ist eben nicht im Personenstand des schreibenden Menschen
zu lokalisieren.“ Das schließt doch jeden autobiographischen Bezug eines Romans
aus. Und das wiederum ist mit Sicherheit nur bedingt so.
17.) Bernd Mayerhofer
(16. Salon, 10. Mai 2012): Wovon man
nicht sprechen kann … Über das Schweigen im Allgemeinen und das bestimmter
Personen im Besonderen. Zitat: „Die Frage nach dem Sinn des Lebens – um nur
diese eine zu nennen – behält auch für Wittgenstein ihre existenzielle
Berechtigung, beantworten muss sie freilich jeder für sich und darf dabei weder
auf die Hilfe der Wissenschaften noch auf die Tröstungen der Philosophie
hoffen.“ Na, so was! Dabei glauben doch sehr viele Menschen, dass die
Philosophie gerade auf diese Frage eine oder mehrere Antworten anzubieten hat.
Und wie steht es mit dem Schweigen? Das hat oft etwas mit verborgenen
Schuldgefühlen zu tun. Hier dreht sich viel um Heidegger. Und mich erinnert die
Thematik an einen ehemaligen Arbeitskollegen, der partout nie über diese
Nichtbewältigungszeit seiner Schuljahre (so um die Zeitspanne 1965 - 1970) mit mir reden
wollte, wo ich als Deutscher mit Migrationshintergrund doch so neugierig war
und ihn regelrecht mit Fragen durchlöcherte. Erfolglos. Mein Exkollege stammt
aus einem Dorf im Allgäu.
18.)
Christoph M. Cegla (27. Salon, 10.
Juli 2012): Warum Guido Knopp der beste
deutsche Historiker ist – Einige theoretische Überlegungen zur Narration in der
Geschichtsschreibung. Es gibt in der Beurteilung der Arbeit des
Fernseh-Historikers naturgemäß zwei Lager: die Anhänger der rein akademischen
Geschichtsschreibung, des sogenannten Historismus, und die Befürworter einer
allgemein verständlichen Geschichtsvermittlung, der narrativen. Guido Knopp gehört zweifelsfrei zu
Letzteren. Kritiker werfen ihm vor, ein Einschaltquotenjäger zu sein. Wie auch
immer, wäre mein Geschichtelehrer Hans
Speck kein guter Erzähler gewesen, hätte Geschichte es bestimmt nicht zu
meinem Lieblingsfach in der Grundschule geschafft. Und weil ich im letzten
Beitrag dieser Anthologie für mich ganz persönlich einen wahren Schatz für die
Seele fand – die Seele eine Karl-May-Fans seit Kindertagen -, will ich ihn (den
C. M. Cegla-Satz) zum Schluss dieser kurzen Buchvorstellung zitieren: „Karl May
oder J. K. Rowling liefern für meine Überlegungen ebenso relevante
Geschichtsdarstellungen wie Umberto Eco oder Jules Verne.“ Danke Christoph M. Cegla!
In
einem Nachwort, das Anstelle eines
Nachworts steht, erläutert Linda
Sauer, warum man eine Einladung zu diesen Salons bei der Adresse Rumford 11A nicht ausschlagen sollte:
„Die Treffen sind eigensinnig und trotzig, sie bedienen sich keiner
vorgefertigten Klischees, sind ungehorsam und befreiend.“ Die Autoren der in
diesem Buch vorgestellten Salontexte werden zum Schluss mit einer
bio-bibliographischen Skizze vorgestellt.
Für
einen ehemaligen Audi-Schichtarbeiter war das im wahrsten Sinne des Wortes eine
erfrischende und manchmal sogar erbauliche Lektüre. Es muss ja nicht immer
Unterhaltung sein. Ja was war das hier denn? Na klar, auch Unterhaltung!
Anton Potche
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