Montag, 8. August 2016

Die Sicht eines Wissenschaftlers auf Südosteuropa

Anton Sterbling: Entwicklungsläufe, Lebenswelten und Migrationsprozesse – Studien zu ländlichen Fragen Südosteuropas; Institut für regionale Forschung e.V.; Shaker Verlag, Aachen, 2010; ISBN 978-3-8322-9598-1; 213 Seiten; EUR 10,--.

Die Herangehensweise beim Lesen eines Sachbuches bleibt natürlich dem Leser überlassen und ist wahrscheinlich so differenziert wie die unterschiedlichen Leserbiografien. Damit wäre auch schon das Stichwort für meine Herangehensweise an dieses Buch gefallen: Biografie. Während der Lektüre ertappte ich mich immer wieder bei den Vergleichen der verschiedenen erörterten Theorien mit meinen eigenen „Lebenswelten“. Das wäre vielleicht nicht so intuitiv geschehen, wenn der Schwerpunkt der hier ausgebreiteten Forschungsergebnisse sich nicht auf Südosteuropa und besonders auf Rumänien bezöge, wo ich immerhin meine Kindheit und Jugend verbracht habe. Oder anders gesagt: Wo meine erste Heimat liegt.

Prof. Dr. Anton Sterbling kennt sich bestens in diesem Teil Europas aus, wurde er doch 1953 in Sânnicolau Mare / Großsanktnikolaus im rumänischen Banat geboren und war in den 1970er Jahren Mitglied der rumäniendeutschen Autorengruppe Aktionsgruppe Banat, deren Verfolgung und Zerschlagung zu den unzähligen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen des rumänischen Geheimdienstes zählte. (Dass die Securitate bei diesen jungen Dichtern wirklich eine Gefahr für die paranoide Diktatur Rumäniens witterte, wird ja wohl niemand ernsthaft glauben. Hingegen ist allgemein bekannt, dass von der Observierung dieser und anderer Gruppen unzählige Securisten und zum Teil auch Spitzel gut bis sehr gut lebten. Gäbe es nicht die vielen Opfer, die mehr oder weniger unter diesen Paranoiainszenierungen eines ganzen Apparats zu leiden hatten, könnte man das Ganze als schlechte Farce abtun.)

Die in diesem Band versammelten Texte sind größtenteils in der Zeitschrift LAND-BERICHTE. SOZIALWISSENSCHAFTLICHES JOURNAL erschienen, deren Mitherausgeber Anton Sterbling ist. Sie sind in drei Kapitel gegliedert. Im ersten Teil befasst der Autor sich mit den Entwicklungsverläufe[n] in Südosteuropa, dann mit dem Thema Das Banat und die Banater Schwaben  und schließlich mit Migrationsprozesse[n] und soziale[n] Folgen.

Nun könnte man meinen, das wären alles trockene Theorien. Nicht aber, wenn man sie auf die eingangs erwähnten eigene Biografie und „Lebenswelt“ (ein immer wieder eingesetzter Markierungspunkt in dieser Arbeit) bezieht. Zur Erläuterung dieses Begriffs heißt es an einer Stelle im Buch: „Das Kernelement der >Lebenswelt< bildet das alltägliche soziale Geschehen, die >Wirklichkeit der Alltagswelt<, die sich aus dem praktischen Handeln sowie den alltäglichen Interaktionsvorgängen und den darin involvierten Sinnmustern und Relevanzstrukturen sowie dem darauf  bezogenen Alltagswissen ergibt.“ In der Alltagssprache heißt das nicht mehr, als dass es sich um eine wissenschaftliche Erklärung unseres – ich beziehe mich jetzt auf die Südosteuropäer – damaligen Lebens handelt. Natürlich erinnert sich jeder noch an seine „Lebenswelt“. Und der eine oder andere gesteht sich vielleicht auch ein, dass er damals nicht immer wusste, wie ihm geschah. Dieses Buch könnte ihm im Nachhinein die eine oder andere Aufklärung liefern.    

Da gab es doch zum Beispiel in so manchem Dorf diese haarsträubenden Geschichten mit einem banatschwäbischen Mädchen, das sich in der Stadt in einen rumänischen Schul- oder Arbeitskollegen verliebte - oder umgekehrt, ein deutscher Junge ... Die wissenschaftliche Erklärung dieses unerhörten familien- und gemeinschaftsschädigenden Verhaltens liefert Prof. Dr. Anton Sterbling in einem Satz: „Die Eingliederung der Banater Schwaben in kleinere oder größere staatliche Betriebe und insbesondere die damit verbundenen Mobilitätsprozesse wirkten sich, wenngleich zeitlich verzögert und vielfältig relativiert, doch tendenziell entfremdend und auflösend auf ihr kleinräumig strukturiertes, ethnozentrisches soziales und kulturelles Leben aus.“ 

Solche Sätze gibt es viele in diesem Buch. Und wenn man auch den einen oder anderen vielleicht besser gleich zweimal oder öfter lesen und womöglich auch ein Fremdwörterbuch griffbereit halten sollte, kann man eine solche Lektüre nur empfehlen. Es kann ganz interessant – und manchmal auch ärgerlich – sein, zu wissen, welches kleine und unscheinbare Rädchen man auf seinem Erdentrip war und noch immer ist. Wer sich auf die Aufsätze dieses Buches einlässt, wird bestimmt mit so mancher Erkenntnis bereichert, denn die angeschnittenen Themen sind weit vielschichtiger, als man sie in einer Rezension erläutern kann.

Ein Aufsatz trägt die Überschrift: Die Deutschen aus Rumänien und die Hinterlassenschaften der Securitate – eine unbewältigte Vergangenheit. Auch Sterbling war ein Opfer der Securitatebespitzelungen. Er stellt heute mit wissenschaftlicher Nüchternheit (insofern das als Betroffener möglich ist) fest: „Die Täter finden nicht nur oft mehr Interesse in der Öffentlichkeit als die Opfer, sondern neigen nicht selten auch dazu, ihre Opfer zu diskreditieren, um die eigene Schuld zu verharmlosen oder zu relativieren.“ Damit meint er die deutsche Öffentlichkeit. Und das wiederum ist ein Kapitel für sich, auch für die deutsche Justiz nicht unbedingt rühmliches. Dass hierzulande lebende und enttarnte Securitatespitzel irgendwelche schmerzhaften Konsequenzen ihrer schmutzigen Tätigkeit zu spüren bekommen hätten, ist zumindest mir nicht bekannt. Im Gegenteil, es gibt Opfer, denen ein Maulkorb verpasst wurde. Dass die Lage in Rumänien nicht besser ist, macht den Scheuklappenblick deutscher Richter leider für die Opfer nicht verträglicher. Die Täter scheinen auf jeden Fall mit ihrer Schuld sehr gut zurechtzukommen.     
Anton Potche

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