Montag, 13. Oktober 2014

Zu Besuch bei alten Weggefährten

Es war im Winter, irgendwann in den 90-er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Ich war beim Schneeschaufeln. Eine Frau in einem langen Pelzmantel näherte sich. Sie ging gebeugten Hauptes, so als suche sie etwas. Vor mir blieb sie stehen und fragte, ob ich keine Handtasche gefunden hätte. Sie beinhalte ihre persönlichen Papiere inklusive Reisepass. Sie könnte sie hier in dieser Straße verloren haben. Das konnte ich leicht nachvollziehen, denn nur wenige Häuser entfernt wohnten einige Musiker des Georgischen Kammerorchesters Ingolstadt. Die ziemlich verzweifelt wirkende Frau vor mir war wahrscheinlich in diesem Haus gewesen. Ich hatte in ihr nämlich Liana Issakadze erkannt, was ich mir aber nicht anmerken ließ. Umso eifriger schaufelte ich aber drauflos; auch den Nachbarn hatte ich an diesem Tag eine Winterarbeit erspart und sogar einen Teil der Fahrbahn vor unserem Anwesen freigeräumt. Leider vergebens. Die Frau bedankte sich herzlich und ging mit dem Blick auf die Schneedecke gerichtet weiter. Ob sie ihre Handtasche je wieder gefunden hat, habe ich nie erfahren.

Aber diese schon etwas verschwommenen Bilder von vor ca. 20 Jahren, waren jetzt plötzlich in meinem Kopf. Denn sie war zurückgekehrt, Liana Issakadze, von 1981 bis 1996 Leiterin des Georgischen Kammerorchesters Ingolstadt, auf die Bühne des Ingolstädter Festsaales, inmitten ihrer noch aktiven Georgier von damals und junger Musiker des Orchesters. Dieser Klangkörper wird heuer 50 Jahre alt. Seine ersten 26 Jahre verbrachte er als Staatliches Georgisches Kammerorchester in Tiflis und die folgenden 24 Jahre als Georgischen Kammerorchesters Ingolstadt in der Stadt an der Donau. Und da wollte man einen Weltstar aus den eigenen Reihen unbedingt dabei haben. Und sie ist gekommen, die zurzeit in Paris und Grasse, eine von Ingolstadts Partnerstädten, lebende Oistrach-Schülerin Liana Issakadze. Im Gepäck hatte sie ihre Geige und Johannes Brahms’ (1833 – 1897) Violinkonzert D-Dur op. 77.
 
Das in der barocken Tradition des Dreisatzes komponierte Stück – übrigens das einzige Violinkonzert Brahms’ – beinhaltet schon im ersten Satz eine atemberaubende Kadenz. Das war Leidenschaft pur, wie Liana Issakadze hier ihrer Geige die Töne entlockte. Nicht nur das Auditorium, auch die Musiker saßen wie Statuen da, besonders die alten Weggefährten aus den stürmischen Zeiten des ausklingenden vorigen Jahrhunderts. Wie entgeistert erzählte die georgische Geigerin auf ihrem Instrument. Und sie hatte bestimmt jedem etwas zu sagen. Genau was, blieb jedem einzelnen überlassen, und man wird es nie erfahren. Schließlich ging man damals ja nicht gerade in Freundschaft auseinander.

Der zweite Teil beginnt mit einem tiefen Horneinsatz auf den sich ein fabelhaftes Thema für die Oboe entfalten kann. Die Geigerin vor dem Orchester lauschte gespannt. Sie kennt diesen berückenden, ganz leicht vibrierenden Ton. Er hat etwas Eigenartiges, mit hohem Erkennungspotential ausgestattet an sich. George Kobulashvili ist seit 1993 der einzige Bläser des Kammerorchesters. Er gehört also zu den alten Weggefährten. Was drückten diese Gesichtszüge Liana Issakadzes wohl aus. Der Ernst in ihnen war nicht zu verkennen. Als würde eine tiefe Ehrfurcht vor der musikalischen Antwort des Mitstreiters aus alten, bewegten Tagen die Stargeigerin ergriffen haben. Dem Zuschauer im Saal blieb die Deutungshoheit überlassen.

Der dritte Satz ließ die Adagio-Gefühlswelt schnell hinter sich. Feuer lag in diesem Allegro giocoso, ma non troppo vivace. Und wer aus dem pannonischen Raum oder seinen Rändern  wie ich stammt, mit dem gehen sofort die Gäule durch, weit über die ungarische Steppe dahinfliegend. Das war das Gefühl der endlosen Freiheit schlechthin. Aber Ariel Zuckermann, der Mann am Pult, der das Orchester von 2006 bis 2011 durch eine erfolgreiche Zeit führte, hatte die Zügel fest in der Hand. Er kennt das schäumende Temperament der Georgier und ließ ihm nur dort freien Lauf, wo es angebracht war. Grandios dieser Schluss, nachdem man schon den Eindruck hatte, die Violine würde in einem melancholischen Dahindämmern das Werk ausklingen lassen. Musikwissenschaftler sprechen von einem Plagalschluss, ähnlich dem abklingenden Amen in einem Gebet. Umso berauschender brauste dann aber der Schlussakkord auf.

Der Weg zum Höhepunkt dieses bemerkenswerten Jubiläumskonzertes führte über einen sehr differenzierten ersten Konzertteil: Sulchan Nassidse (1927 – 1996) und Ludwig van Beethoven (1770 – 1827).

Fotos: Programmheft
Wie kommt man fast ganz ohne Melodie aus und kann den Zuhörer doch bis zu den sterbenden Tönen der zwei sich etwas zuflüsternden ersten Geigen fesseln? So, wie der Georgier Sulchan Nassidse es komponiert hat und seine Georgier es umgesetzt haben. Das Ingolstädter Orchester hat diese Kammersinfonie Nr. 3 schon länger im Programm. Und das sie auch Ariel Zuckermann nicht fremd ist, war an der atemberaubenden Sicherheit und dem perfekten Zusammenspiel von Musiker und Dirigent zu erkennen. Musik die in unsere Zeit reicht. Da kam ein Rock-Gefühl auf, obwohl nur Streicher auf der Bühne saßen. Nur schöner, verträglicher und vor allem abwechslungsreicher als so manche Rockmusikdarbietung. Selbst im Fortissimo, als die Musiker ihre Instrumente regelrecht bearbeiteten, behielt der reine, auch in fremdartig anmutenden Harmonien eingebundene Klang die Oberhand. Musik pur ohne jedwede Lärmgeräusche.

Ein Standartwerk der symphonischen Musik ist Beethovens 7. Sinfonie A-Dur op. 77. Und wieder mal hat das Georgische Kammerorchester Ingolstadt gezeigt, dass es auch der großen Orchesterliteratur gewachsen ist. Verstärkt mit den nötigen Blas- und Perkussionsinstrumenten entfaltete sich schon nach den ersten Takten ein Klangzauber, der stark zu dem des vorangegangenen Werks kontrastierte. Poco sostenuto – Vivace ging es los. Tänzelnd. Rhythmisch nicht übertrieben schnell, sodass Themenübernahmen von einem Instrument zum anderen sich zu einem wahren Hörgenuss entfalten konnten. Allegretto. Dieser zweite Satz beginnt mit einem Ohrwurm. Wunderbar frasiert von den Celli und  Contrabässen, wurde hier ein Klangteppich ausgebreitet, auf dem die folgenden Instrumentaleinsätze gar nicht anders als weich klingen konnten. Scherzo. Presto. Dieser Satz beginnt mit einem Hornthema, das von der Oboe übernommen und weitergeführt wird. Hier entfaltete sich ein Melodienzauber, der für viele Menschen erst Musik ausmacht. Im Allegro con brio steuerte das Orchester schließlich unter den energischen Armschwingungen Ariel Zuckermanns – er dirigierte ohne Taktstock – der Konzertpause zu. Man erzählt von dieser Sinfonie immer wieder in politischen Zusammenhängen. Sie entstand in der Napoleon-Zeit, und man weiß, dass Beethoven kein unpolitischer Mensch war. Diese Aufführung der Georgier hat aber eindeutig gezeigt, dass es viel schöner ist, wenn die Musik für sich allein steht. Sie braucht wahrlich keinen politischen Hintergrund.

Foto: Anton Potche
In der Konzertpause liefen über eine Filmleinwand Bilder aus der bewegten Geschichte des Georgischen Kammerorchesters Ingolstadt. Teil dieser Geschichte ist und bleibt die Dirigentin und Geigenvirtuosin Liana Issakadze. Vor allem ihr galten zum Schluss dieses Jubiläumskonzertes die standing ovation und Bravorufe. Als Dankeschön spielte sie noch eine Bach-Variation. Natürlich pures Virtuosentum.

Zu Hause suchte ich in meinen Tagebüchern nach dem Tag mit der verlorenen Handtasche. Und fand nichts. Er, der Tag, muss einer meiner Schludrigkeitsperioden zum Opfer gefallen sein. Doch als ich meine Frau fragte, ob sie sich erinnern könnte, lächelte sie nachsichtig und bestätigte mir: „Ja, ja, ich kann mich erinnern. Da war mal was.“
Anton Potche

Nachtrag
Bei allen euphorischen Gefühlen, die dieser Abend bei mir ausgelöst hat, konnte ich eins nicht verstehen: Wieso hat diese weltgewandte und erfahrene Musikerin zum Ende ihres umjubelten Auftritts nur dem ersten Cellisten – ein Gefährte aus gemeinsamer Orchesterzeit – die Hand gereicht und nicht auch dem jungen Konzertmeister - ein Sohn eines der alten Weggefährten?

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