Es war im Winter, irgendwann in den 90-er Jahren des vorigen
Jahrhunderts. Ich war beim Schneeschaufeln. Eine Frau in einem langen
Pelzmantel näherte sich. Sie ging gebeugten Hauptes, so als suche sie etwas.
Vor mir blieb sie stehen und fragte, ob ich keine Handtasche gefunden hätte.
Sie beinhalte ihre persönlichen Papiere inklusive Reisepass. Sie könnte sie hier
in dieser Straße verloren haben. Das konnte ich leicht nachvollziehen, denn nur
wenige Häuser entfernt wohnten einige Musiker des Georgischen Kammerorchesters
Ingolstadt. Die ziemlich verzweifelt wirkende Frau vor mir war
wahrscheinlich in diesem Haus gewesen. Ich hatte in ihr nämlich Liana Issakadze erkannt, was ich mir aber nicht anmerken ließ. Umso eifriger schaufelte ich aber drauflos; auch
den Nachbarn hatte ich an diesem Tag eine Winterarbeit erspart und sogar einen
Teil der Fahrbahn vor unserem Anwesen freigeräumt. Leider vergebens. Die Frau
bedankte sich herzlich und ging mit dem Blick auf die Schneedecke gerichtet
weiter. Ob sie ihre Handtasche je wieder gefunden hat, habe ich nie erfahren.
Aber diese schon etwas verschwommenen Bilder von
vor ca. 20 Jahren, waren jetzt plötzlich in meinem Kopf. Denn sie war
zurückgekehrt, Liana Issakadze, von 1981
bis 1996 Leiterin des Georgischen Kammerorchesters Ingolstadt,
auf die Bühne des Ingolstädter Festsaales, inmitten ihrer noch aktiven Georgier
von damals und junger Musiker des Orchesters. Dieser Klangkörper wird heuer 50
Jahre alt. Seine ersten 26 Jahre verbrachte er als Staatliches Georgisches
Kammerorchester in Tiflis und die folgenden 24 Jahre als Georgischen
Kammerorchesters Ingolstadt in der Stadt an der Donau. Und da wollte
man einen Weltstar aus den eigenen Reihen unbedingt dabei haben. Und sie ist
gekommen, die zurzeit in Paris und Grasse, eine von Ingolstadts Partnerstädten,
lebende Oistrach-Schülerin Liana Issakadze. Im Gepäck hatte sie
ihre Geige und Johannes Brahms’
(1833 – 1897) Violinkonzert D-Dur op. 77.
Das in der barocken Tradition des Dreisatzes komponierte
Stück – übrigens das einzige Violinkonzert Brahms’
– beinhaltet schon im ersten Satz eine atemberaubende Kadenz. Das war
Leidenschaft pur, wie Liana Issakadze hier
ihrer Geige die Töne entlockte. Nicht nur das Auditorium, auch die Musiker
saßen wie Statuen da, besonders die alten Weggefährten aus den stürmischen
Zeiten des ausklingenden vorigen Jahrhunderts. Wie entgeistert erzählte die
georgische Geigerin auf ihrem Instrument. Und sie hatte bestimmt jedem etwas zu
sagen. Genau was, blieb jedem einzelnen überlassen, und man wird es nie
erfahren. Schließlich ging man damals ja nicht gerade in Freundschaft
auseinander.
Der zweite Teil beginnt mit einem tiefen Horneinsatz auf den
sich ein fabelhaftes Thema für die Oboe entfalten kann. Die Geigerin vor
dem Orchester lauschte gespannt. Sie kennt diesen berückenden, ganz leicht
vibrierenden Ton. Er hat etwas Eigenartiges, mit hohem Erkennungspotential
ausgestattet an sich. George Kobulashvili ist seit 1993 der einzige Bläser des
Kammerorchesters. Er gehört also zu den alten Weggefährten. Was drückten diese
Gesichtszüge Liana Issakadzes wohl
aus. Der Ernst in ihnen war nicht zu verkennen. Als würde eine tiefe Ehrfurcht
vor der musikalischen Antwort des Mitstreiters aus alten, bewegten Tagen die Stargeigerin ergriffen
haben. Dem Zuschauer im Saal blieb die Deutungshoheit überlassen.
Der dritte Satz ließ die Adagio-Gefühlswelt schnell hinter
sich. Feuer lag in diesem Allegro giocoso, ma non troppo vivace. Und wer aus dem pannonischen Raum oder
seinen Rändern wie ich stammt, mit dem
gehen sofort die Gäule durch, weit über die ungarische Steppe dahinfliegend.
Das war das Gefühl der endlosen Freiheit schlechthin. Aber Ariel Zuckermann, der Mann am Pult, der das Orchester von 2006 bis
2011 durch eine erfolgreiche Zeit führte, hatte die Zügel fest in der Hand. Er
kennt das schäumende Temperament der Georgier und ließ ihm nur dort freien Lauf, wo
es angebracht war. Grandios dieser Schluss, nachdem man schon den Eindruck
hatte, die Violine würde in einem melancholischen Dahindämmern das Werk ausklingen
lassen. Musikwissenschaftler sprechen von einem Plagalschluss, ähnlich dem
abklingenden Amen in einem Gebet. Umso berauschender brauste dann aber der
Schlussakkord auf.
Der Weg zum
Höhepunkt dieses bemerkenswerten Jubiläumskonzertes führte über einen sehr
differenzierten ersten Konzertteil: Sulchan
Nassidse (1927 – 1996) und Ludwig
van Beethoven (1770 – 1827).
Fotos: Programmheft |
Wie kommt man fast
ganz ohne Melodie aus und kann den Zuhörer doch bis zu den sterbenden Tönen der
zwei sich etwas zuflüsternden ersten Geigen fesseln? So, wie der Georgier Sulchan Nassidse es komponiert hat und
seine Georgier es umgesetzt
haben. Das Ingolstädter Orchester hat diese Kammersinfonie Nr. 3 schon
länger im Programm. Und das sie auch Ariel
Zuckermann nicht fremd ist, war an der atemberaubenden Sicherheit und dem
perfekten Zusammenspiel von Musiker und Dirigent zu erkennen. Musik die in
unsere Zeit reicht. Da kam ein Rock-Gefühl auf, obwohl nur Streicher auf der
Bühne saßen. Nur schöner, verträglicher und vor allem abwechslungsreicher als
so manche Rockmusikdarbietung. Selbst im Fortissimo, als die Musiker ihre
Instrumente regelrecht bearbeiteten, behielt der reine, auch in fremdartig
anmutenden Harmonien eingebundene Klang die Oberhand. Musik pur ohne jedwede
Lärmgeräusche.
Ein Standartwerk
der symphonischen Musik ist Beethovens
7. Sinfonie A-Dur op. 77. Und wieder mal hat das Georgische Kammerorchester Ingolstadt gezeigt, dass es auch der
großen Orchesterliteratur gewachsen ist. Verstärkt mit den nötigen Blas- und
Perkussionsinstrumenten entfaltete sich schon nach den ersten Takten ein
Klangzauber, der stark zu dem des vorangegangenen Werks kontrastierte. Poco
sostenuto – Vivace ging es los. Tänzelnd. Rhythmisch nicht übertrieben
schnell, sodass Themenübernahmen von einem Instrument zum anderen sich zu einem
wahren Hörgenuss entfalten konnten. Allegretto. Dieser zweite Satz
beginnt mit einem Ohrwurm. Wunderbar frasiert von den Celli und Contrabässen, wurde hier ein Klangteppich
ausgebreitet, auf dem die folgenden Instrumentaleinsätze gar nicht anders als
weich klingen konnten. Scherzo. Presto. Dieser Satz beginnt mit einem
Hornthema, das von der Oboe übernommen und weitergeführt wird. Hier entfaltete
sich ein Melodienzauber, der für viele Menschen erst Musik ausmacht. Im Allegro
con brio steuerte das Orchester schließlich unter den energischen
Armschwingungen Ariel Zuckermanns –
er dirigierte ohne Taktstock – der Konzertpause zu. Man erzählt von dieser Sinfonie
immer wieder in politischen Zusammenhängen. Sie entstand in der Napoleon-Zeit,
und man weiß, dass Beethoven kein
unpolitischer Mensch war. Diese Aufführung der Georgier hat aber eindeutig gezeigt, dass es viel schöner
ist, wenn die Musik für sich allein steht. Sie braucht wahrlich keinen
politischen Hintergrund.
Foto: Anton Potche |
In der Konzertpause liefen über eine Filmleinwand Bilder aus
der bewegten Geschichte des Georgischen Kammerorchesters Ingolstadt.
Teil dieser Geschichte ist und bleibt die Dirigentin und Geigenvirtuosin Liana Issakadze. Vor allem ihr galten
zum Schluss dieses Jubiläumskonzertes die standing ovation und Bravorufe. Als
Dankeschön spielte sie noch eine Bach-Variation. Natürlich pures Virtuosentum.
Zu Hause suchte ich in meinen Tagebüchern nach dem Tag mit
der verlorenen Handtasche. Und fand nichts. Er, der Tag, muss einer meiner
Schludrigkeitsperioden zum Opfer gefallen sein. Doch als ich meine Frau fragte,
ob sie sich erinnern könnte, lächelte sie nachsichtig und bestätigte mir: „Ja,
ja, ich kann mich erinnern. Da war mal was.“
Anton Potche
Nachtrag
Bei allen euphorischen Gefühlen, die dieser Abend bei mir
ausgelöst hat, konnte ich eins nicht verstehen: Wieso hat diese weltgewandte
und erfahrene Musikerin zum Ende ihres umjubelten Auftritts nur dem ersten
Cellisten – ein Gefährte aus gemeinsamer Orchesterzeit – die Hand gereicht und
nicht auch dem jungen Konzertmeister - ein Sohn eines der alten Weggefährten?
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