Das klingt vielleicht überspitzt, einige mögen es gar
übertrieben finden und andere von einer nostalgischen Schwärmerei nach literarischer
Stammtischatmosphäre wie einst im Romanischen Café zu Berlin oder im Wiener Café
Griensteidl reden. Daran mag etwas
liegen. Für einen Menschen, dessen Sein sich aber aus Heute und Gestern
zusammensetzt, gehen Kulturen nie unter. Sie begleiten ihn ein Leben lang; und
das umso mehr je häufiger Spurenelemente dieser Kultur im jeweiligen Zeitgeist
sicht- und spürbar bleiben. Der neue STERN-Herausgeber Dominik Wichmann sagte
kürzlich in einem Interview mit DER ZEIT, dass er bei einem Besuch Seattles
(USA) unter anderem auch von der dortigen „Lese- und Kaffeehauskultur“ angetan
war. Sie lebt also weiter, die Gepflogenheit des Vorlesens im Café; und das
nicht nur im deutschen Sprachraum.
Und sie ist anders als die als Event vermarktete Lesung mit
Stars der Szene. Die Lesekultur im Kaffeehaus hat einen Hauch von Intimität.
Man kennt sich. Man liest. Man spricht - mehr oder weniger – über die
vorgetragenen Texte. Ach ja, man hat sich einen Tee oder einen Kaffee bestellt
und damit alle Voraussetzungen einer gemütlichen Anderthalbstunde geschaffen.
So kann man sich eine Lese- und Kaffeehauskulturatmosphäre in Berlin, Wien, Seattle
oder eben auch in Ingolstadt vorstellen. Und wahrlich, man liegt nicht weit
daneben. Als wäre die Zeit stehen geblieben.
In Ingolstadt gibt es seit etlichen Jahren einen
Autorenkreis. Er wird zurzeit von Susanne
Feiner und Michael von Benkel
geleitet. Zu einer richtigen Lese- und Kaffeehauskultur gehört
selbstverständlich ein Café. Die Ingolstädter Autoren treffen sich monatlich im Café Maximilian in der Ingolstädter Altstadt. Dort veranstalten sie auch in unregelmäßigen
Abständen öffentliche Lesungen, bei denen Autoren aus ihren Werken lesen. Die
Reihe nennt sich Lesung ohne Motto.
Die letzte Lesung dieser Reihe fand am 24. Januar statt und war auf
Eineinhalbstunden anberaumt. Es traf sich gut. Donnerstagabend. Kalt in der
Schanz. Vereinzelte Frau-Holle-Federn und mein Bedürfnis zuzuhören. Mal das
Gefühl, etwas selber sagen zu müssen, unterdrücken und die eigene Konzentrationsfähigkeit
auf den Prüfstand stellen. Wie lange kann ich einer Handlung folgen, ohne in
Gedanken abzuschweifen, um mich dann erschreckt zu fragen: Verdammt, wo ist der
Faden?
Fünfzehn Leute saßen im Café Maximilian an Tischen in einem
zu einer Seite geöffneten Karree. An dieser Seite stand ein Tisch mit einer
Kerze drauf. Meine Fantasie überspielte mir Bilder von der Gruppe 47. Aber es
kam ganz anders. Giesela Geiseler las
als Erste der drei im Raum Ingolstadt zu den bekannten Namen gehörenden
Autoren. Die Schriftstellerin hat im Regensburger Verlag verweiledoch zwei Bände
mit Erzählungen veröffentlicht. Ihre Texte haben nach eigenem Bekunden
einen realen Kern, der in fiktionalen Hüllen verpackt ist. Die bei dieser
Lesung vorgetragenen Erzählungen zeugen von einer sehr anspruchsvollen, aber
gleichzeitig verständlichen Sprache, obwohl immer wieder auch Wörter oder kurze
Sätze in Fremdsprachen im Text vorkommen. Selbst wenn man sie nicht versteht,
wirken sie nicht störend sondern erhellen das jeweilige Lokalkolorit; selbst
dann, wenn es um eine dunkle Geschichte geht, die zum Beispiel
Fremdenfeindlichkeit in Spanien thematisiert. Dass die Autorin aber um einen
inhaltlichen Ausgleich bemüht war, bewies sie mit ihrer zweiten, nach der Pause
gelesenen Erzählung Dolce Vita.
Caféatmosphäre in der Faschingszeit - ein zeitlich passender Text.
Auch Klaus W. Sporer
ist ein literarisches Schwergewicht in der Region Ingolstadt. Der vielseitige
Künstler, Musik & Malerei, hat eine ganze Reihe von Lyrikbänden
veröffentlicht. Eine anscheinend noch nicht abgeschlossene Folge, denn der
Dichter hat an diesem Abend nur von Manuskriptblättern gelesen. Gedichte in
Arbeit? Noch unziseliert? Arbeit am Kunstwerk? Wer weiß das schon? Vielleicht
nicht einmal der Poet selber. Sie klingt so reif, diese Lyrik des Klaus W. Sporer. Und wie sollte sie
auch nicht, „wenn man dem Roman seines Lebens / auf dem Weg begegnet“, „wenn
sich Bilder über Bilder legen“ und es ein Fehler war, „die Narren mit ihren
Schellen zu übertönen“. Tief und sonor klingt die Stimme des Lyrikers. Und wenn
sie sich beim jeweils letzten Vers zur Ruhe begibt, erklingen Gitarrenakkorde
und Melodieansätze - passend zu jedem verklungenen Gedicht. Eine gelungene
Symbiose. Michael von Benkel hatte
seine Gitarre mitgebracht. Und wie der das Instrument beherrscht! Da war selbst
der Multikünstler Sporer überrascht.
Diese Musikübergänge waren zwar abgesprochen, aber nicht eingeübt. Inspiration
des Augenblicks. Wie beim Free Jazz. Oder gar den Benkelmusikanten? Warum
nicht? Nur eben ohne deren sozialkritische Herbheit. Das Geheimnis,
verschiedene Kunstsparten harmonieren zu lassen, liegt im Aufeinenderhören. Mit dieser Lösung wurde es gelüftet.
Paul Misch (Foto: Anton Delagiarmata) |
Auch Paul Misch
ist für Ingolstädter Literaturinteressierte kein Unbekannter. Er hat aus Erzählungen und nackte Tatsachen (edition
Fischer, 2011) gelesen. Eine dieser „erträumten“ (Einwurf einer Zuhörerin)
nackten Tatsachen war dann auch Schuld daran, dass die vorgesehene Lesezeit um
eine gute halbe Stunde überzogen wurde. Eine andere Besucherin hatte sich nämlich die
Erzählung Der junge Mann hinter dem Zaun
gewünscht. Sie hatte in der Pause in Paul
Mischs Erzählband geschmökert. Der Autor zögerte ein wenig mit der
Begründung, dass er diesen Text noch nie öffentlich vorgetragen habe. Aber die
Runde hatte Blut geleckt. Sie wollte den Text. Also hat der Schriftsteller aus
der Grass-Generation gelesen. Ruhig, sachlich, wie ein erzählender Großvater im
Kreis seiner Enkel. Und diese Geschichte hatte es in sich. Sie thematisiert zwar die Kriegszeit, spielt aber ausnahmsweise nicht in Europa, sondern in Amerika.
Wie viel Paul Misch mag in dem
deutschen Kriegsgefangenen Paul Gerhard stecken? Die Frau mit den „erträumten
nackten Tatsachen“ schien es zu wissen. Auf jeden Fall kam die Erzählung bei
den meist jüngeren Teilnehmern der Lesung, einige im Enkelalter, gut an - auch
wenn Gerhard und Shirlay sich nicht gekriegt haben, was wiederum die ältere
Dame mit dem „erträumten“-Einwurf zu freuen schien. (Vielleicht die Gattin des
Autors?)
Die Lesung ohne Motto war
beendet. Welche Überschrift hätte sie wohl verdient? Ich bin mir sicher, dass
es bei einer Umfrage fünfzehn verschiedene gegeben hätte. Schon das allein
spricht für die gegenwärtige Lese- und Kaffehauskultur in Ingolstadt. Ach ja:
Von Zensuren á la Gruppe 47 war nichts zu spüren.
Anton Potche
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