Schrecklich, diese
Verschlafenheit! Ein Dorf ist das, und die wollen Großstadt sein! Nichts los in
diesem Nest! Aber gar nichts! Das hört man immer wieder. Und ich mittendrin.
Schrecklich, in dieser Stadt leben zu müssen. Ingolstadt. Welch grausames
Schicksal hat mich hierher verschlagen? Mit was habe ich das nur verdient?
Da sitze ich nun an diesem
ereignislosen Samstagabend. Der Spätsommer hat sich verabschiedet. Oktoberfest
ist. Aber dort, wo die bayrische Seele bebt und die Italiener kommen und die
Japaner und... Was mach ich nur in diesem verschlafenen Weiler? Geh ich ins
Kleine Haus im Stadttheater und schau mir Die
Grönhelm-Methode an, oder versuch ich, noch in letzter Minute eine Karte
für die Premiere von Nick Whitbys Sein oder Nichtsein zu ergattern
(schließlich ist Friedrich Schilha
wieder da), oder schau ich mir Immer is’
was. Und jetzt ist auch noch Klaus weg im Altstadttheater an? Oder
vielleicht hör ich mir die Sopranistin Hanna
Eittinger und den Cembalisten Ralf Waldner
mit ihrem Donne-Barocche-Programm im
Barocksaal des Stadtmuseums an, das Jubiläumskonzert des Ingolstädter Jugendkammerchors
wäre vielleicht auch etwas, oder vielleicht doch lieber Jazz & More mit Silje
Nergaard im Diagonal oder, oder ... Ich habe mich dann endlich entschieden, und
zwar für eine Stunde der Kirchenmusik
in der St-Matthäus-Kirche. Was willst du auch machen in einem stadtähnlichen
Gebilde, in dem nichts, aber auch gar nichts los ist?
Das Ingolstädter Holzbläsercollegium
hatte zum Konzert geladen. Martin
Michaelis stellte seine ihn flankierende Mitstreiter vor: „Obwohl der Orden
der Templer bereits im 14. Jahrhundert untergegangen ist, haben zwei Templer überlebt.“
Das sind Norbert Templer an der
Klarinette und dem Altsaxophon und sein Bruder, Edgar Templer, Klarinette und Bassklarinette.
Kirchenkonzerte
sind ja in der Regel Bildungskonzerte, schon wegen der Vielzahl der Stücke und
der dadurch ermöglichten musikalischen Bandbreite. So konnte sich auch dieses
Programm sehen lassen: Originalkompositionen und Transkriptionen vom 18.
Jahrhundert bis in die Gegenwart und, was nicht immer der Fall ist,
Eigenkompositionen. Abwechslungsreiche und auf hohem musikalischem Niveau vorgetragene Holzbläsermusik, dazu noch eine Ergänzung von
der Orgel mit Zwei Präludien in A-Dur und
C-Dur [Johann Christoph Kellner
(1736 – 1813)] und einem Grand Choeur
[Theodore Dubois (1837 – 1924)] – was will man mehr? Die Orgel wurde von Reinhold Meiser gespielt.
Es ging los mit W. A. Mozarts (1756 – 1791) Divertimento Nr.1 – für zwei Klarinetten und
Bassklarinette: ein erzählerisch vorgetragenes Adagio zwischen einem Allegro
und einem Menuetto.
Dann schon eine
Eigenkomposition von Edgar Templer
(*1962): Ein Wintertag – für zwei
Klarinetten und Bassklarinette. Das ist eine wunderschöne musikalische
Miniatur in fünf Sätzen: Der Tag Bricht
an. Morgentanz der Schneeflocken. Der Wind streicht übers Feld. Die
Nachmittagssonne scheint. Es dämmert. Können Musiker ihre eigenen
Kompositionen schöner spielen als andere? Schwer zu sagen. Auf jeden Fall ließ Edgar Templer diesen Tag auf eine Art
und Weise anbrechen, dass es einem die Gänsehaut über den Rücken trieb. Sein
Bassklarinettensolo war eine musikalische Glanzleistung: so geschmeidig, so
leise und trotzdem so rund im Ton – einfach einnehmend, dieser liebenswürdige
Bassklarinettenbrummbär.
Der Griff zum Saxophon
deutete es an: Es geht in die Moderne: Trio
Nr. 4 für zwei Klarinetten und Saxophon von Noel Samyn. Auch das letzte Stück des Konzerts, Trio Nr. 1 für drei Klarinetten, stammt
aus der Feder dieses Komponisten. Das Altsaxophon passte farblich hervorragend
zu den zwei Klarinetten. Man muss das Instrument in dieser Konstellation aber
besonders weich spielen. Norbert Templer
hat sich mit seinem Ton hervorragend den zwei Klarinetten angepasst.Das gilt
auch für den Song für zwei Klarinetten
und Saxophon von M. Lewis
(*1925).
In Jacques Bouffils (1783 – 1868) Trio
deuxieme für drei Klarinetten zeigte sich dann, wie schwer es ist von einem
Instrument aufs andere zu wechseln, auch bei so hervorragenden Musikern.
Besonders im Allegro non troppo hatte
man den Eindruck, dass sich hier für das Trio technische Grenzen bemerkbar
machten. Umso mehr wurde man dafür im, einem schönen Adagio cantabile folgenden, Minuetto
entschädigt. Toll!
René Gerber (1908 – 2006) hat eine Sonatine
für drei Klarinetten geschrieben, die besonders im Rondé sehr leichtfüßig daherkommt. Die drei Holzbläser haben auch
hier bewiesen, dass sie über eine breite Palette an technischen und
gestalterischen Fähigkeiten verfügen. Auch ihr Zusammenspiel klappte gut. Das
Trio brillierte besonders in den leisen Passagen.
Das war ein angenehmer
Konzertsamstagabend in einer Stadt, in der nichts, aber auch gar nichts los
ist. Ich war froh, mich für dieses Kulturangebot entschieden zu haben – etwa 30
Leute hatten die gleiche Entscheidung getroffen – und fragte mich auf dem
Heimweg, wo die vielen Nörgler über ein mangelndes Kulturangebot an diesem
Abend wohl waren. Hoffentlich waren sie wenigstens bei einer der vielen anderen
Veranstaltungen. Oder sie saßen vor der Glotze und beklagten sich am nächsten
Tag: Es war ja nichts los.
Ingolstadt, 07.10.2012
Anton Potche
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