Auch Literatur gehört zum Gesellschaftsleben in Rauris
Ich habe resigniert. Schon
lange kämpfe ich nicht mehr dagegen an: gegen meine Banater im engeren und
rumäniendeutsche Vergangenheit im weiteren Sinn. Sie ist einfach da, in meinem
Kopf. Warum auch dagegen ankämpfen? Irgendwie schärft sie den Blick und
verleitet mich dazu, immer und überall nach ihr zu suchen oder zumindest nicht
wegzuschauen. Nur schaue ich eben in der Gegenwart und nicht in der
Vergangenheit. Also lebe ich – auch im Urlaub. Zu beachten habe ich dabei immer
nur eins: Du darfst niemand damit belästigen. Alles, Gedanken, Suchen und
Finden schön für dich behalten.
Doch siehe da: In der
Eingangshalle des Rathauses – ein imposanter Natursteinbau – stand ein Tisch
mit Broschüren „zum Mitnehmen“: Lesen auf
dem Lande – Literarische Rezeption und Mediennutzung im ländlichen
Siedlungsgebiet Salzburgs – Bericht über ein empirisches Forschungsprojekt von
Walter Hömberg und Karlheinz Roßbacher, ferner „DIE RAMPE – Porträt Hans Eichhorn und DIE RAMPE – 50 Jahre
Landeskulturpreis für Literatur sowie DAS
MAGAZIN –40 Jahre Rauriser Literaturtage von Brita Steinwendtner und Hildemar
Holl. Dazu fand ich am Tag darauf noch im Tourismusbüro ein
Veranstaltungsprogramm des Literaturhauses Salzburg. Wenn das kein
Schmökermaterial für meine Urlaubsruhefasen – bei diesem herrlichen
Spätsommerwetter waren es nicht allzu viele – auf dem Balkon der Ferienwohnung
im Hause Potche war! Dagegen kamen die SALZBURGER NACHRICHTEN nicht mehr an.
Bei Schlagzeilen wie „Leben wir in der Republik der Gauner?“ ist das umso
verständlicher.
Aus dem Vorwort der Studie
Lesen auf dem Lande geht hervor, dass
sich 1971 „in Rauris, einer Marktgemeinde in einem Salzburger Hochtal, einige
bekanntere und unbekanntere Schriftsteller trafen, um aus ihren Werken zu lesen
und über ihre Texte zu sprechen. Seitdem gibt es die Rauriser Literaturtage
jährlich.“ Damals maturierte Herta
Müller (*1953) an der Nikolaus-Lenau-Schule in Temeswar. Herta Müller? Ja.
Der Österreicher Hans Eichborn (*1956) schreibt in der
ihm gewidmeten und vorbehaltenen RAMPE Nr. 3/2011: „Schreiben über diesen Ort
heißt sich selbst als Vereinfachung preisgeben, heißt die Verwandlungen über
Bord werfen, heißt etwas greifen wollen, das nur in der Vielzahl sagbar ist.
Ist diese skrupulöse Annäherung an einen Ort nicht die skrupulöse Annäherung an
ein Ich?“ Er meint Attersee am Attersee. Der Fischer, Maler und Schriftsteller
hat sein erstes Gedicht 1983 veröffentlicht. Zehn Jahre später erschien sein
erstes Buch. Ein Jahr vor dem ersten veröffentlichten Eichhorn-Gedicht sind die
Niederungen erschienen, im Banat, am
südöstlichen Rand der verblichenen Monarchie – Herta Müllers erstes Buch. Wenn es im Editorial dieses „Heftes für
Literatur“ über Hans Eichhorn heißt,
dass „der See oft der Ausgangspunkt seiner Sprachassoziationen ist, ohne dass
diese jedoch vor Ort verankert würden“, dann genügt es, den „See“ mit dem „banatschwäbischen
Dorf“ auszutauschen, und schon hat man ein zutreffendes Ein-Satz-Porträt der
Nobelpreisträgerin. Ob Hans Eichhorn
und Herta Müller sich kennen? Ich
weiß es nicht. Hans Eichhorn hat
1984 das Rauriser Arbeitsstipendium für Literatur erhalten, Herta Müller ein Jahr später den Rauriser
Literaturpreis, wie im MAGAZIN nachzulesen ist.
Im Editorial desselben
MAGAZINS (Ausgabe 2010) heißt es: „In Rauris haben bisher fast 400 Autorinnen
und Autoren gelesen, diskutiert, das Tal erkundet und neue Freundschaften
geschlossen. [...] Wir freuen uns sehr, dass jüngst, im Jahre 2009, zwei
ehemalige Rauris-Preisträger mit den höchsten literarischen Auszeichnungen
geehrt wurden: Walter Kappacher mit dem Büchner-Preis und Herta Müller mit dem
Nobelpreis für Literatur.“ Rauris spielt also eine Rolle in den Biographien von
Hans Eichhorn und Herta Müller. Und wenn die Banater
Schwäbin den Oberösterreicher nicht persönlich kennt, dann kennt ihn ein
anderer namhafter Literat mit donauschwäbischen Wurzeln. Vom Fotografen und
Medienwissenschaftler Kurt Kaindl
(*1954) erfährt man in einem RAMPE-Beitrag: „Karl-Markus Gauß hat mich als –
zwar studierten, aber nichtsdestotrotz ziemlich unbelesenen – Germanisten auf
Hans Eichhorn aufmerksam gemacht.“
Im Jahre 2005 gingen die
35. Rauriser Literaturtage „der Frage nach, welche Orte den eingeladenen
Autorinnen und Autoren für ihr Leben und Schreiben bedeutend sind: als
konkrete, geographische Orte oder als ideelle, symbolische“. Damals haben
gleich drei Literaten mit südosteuropäischen Wurzeln aus ihren Werken gelesen:
der „mit den sterbenden Völkern und Sprachinseln Europas“ verbundene Karl-Markus Gauß (*1954), Herta Müller, „die ihre Orte in
neuesten Wort- und Bild-Collagen zum Schillern bringt“ sowie Milo Dor (1923 - 2005), „Mitteleuropäer
von Geburt und Leidenschaft, der uns die Kraft der Völkerverständigung greifbar
macht“. Man könnte auch sagen: der Sohn eines Palankaers (Batschka), eine
Nitzkydorferin und ein Banater Serbe.
1985 war mein erstes Jahr
in Deutschland. Ich erinnere mich heute noch an meine Orientierungslosigkeit.
Im März jenes Jahres „scharte sich bis zwei, drei Uhr früh im Rauriserhof ein
kleiner Kreis um die rumänische Autorin und konnte nicht fassen, was sie zu
berichten wusste“. (DAS MAGAZIN). Herta
Müller kehrte danach ins Banat zurück, zu den Menschen, die „geduckt,
ängstlich, abergläubisch, prüde, bigott und mehr der vom Verlust bedrohten
Tradition zugewandt als der Gegenwart“ daherkamen. (DAS MAGAZIN) Ich blieb –
nicht zuletzt, um jetzt vor dem Rauriserhof zu stehen und Assoziationen zu
spinnen; wahrscheinlich aus dem gleichen unbändigen Trieb, der sie alle, Milo Dor, Karl-Markus Gauß, Herta
Müller, auch Hans Eichhorn und
viele andere, zum Schreiben gedrängt hat und noch immer drängt: die selbst
erlebte oder von unseren Vorderen in irgendeiner Weise bewusst oder unbewusst
weitervermittelte Vergangenheit. (Das waren noch Zeiten, als „de Schwob in mer“
die Nudeln im Schwäbischen Bad verteidigt hat.)
Sie, die nicht zu
verdrängende Erinnerung, ist es auch, die mich dazu veranlasst hat, noch andere
in meiner Urlaubslektüre unverhofft gefundene Namen zu unterstreichen: Caius Dobrescu hat in Rauris gelesen, Oskar Zemme hat den
Oberösterreichischen Landeskulturpreis 1995 bekommen, im Literaturhaus Salzburg
kann man am 17. September 2012 um 20 Uhr den „Polyphonen Erzählungen – Ich
wachse rückwärts“ von Aglaja Veteranyi
lauschen, im gleichen Haus liest Iris
Wolf am 28. September 2012, ebenfalls um 20 Uhr“ und schließlich
organisiert das Literaturhaus eine Literaturfahrt nach Bad Ischl und Bad
Goisern. Nikolaus Lenau genoss „in
den 1840er Jahren in Ischl glückliche Stunden mit seiner unerreichbaren Liebe
Sophie von Löwenthal und die Schönheiten der Natur“, wirbt das
Programmfaltblatt des Salzburger Literaturhauses für diese Veranstaltung.
Es ist wirklich so: Wohin
man schaut, Erinnerungsgeneratoren. Man muss nur mit offenen Augen die
Gegenwart durchschreiten und darf sich seinem Gestern und Vorgestern nicht
verweigern.
Rauris, 07.09.2012
Anton Potche
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