Donnerstag, 21. Juni 2012

So schlittert man in den Wahn

Ivo Andrić: Der verdammte Hof, Erzählung; Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1962; ohne ISBN-Nummer; (Bei Amazon.de gibt es ein großes Angebot an Exemplaren in der Preisspanne 0,40 € - 12,80 € - Stand 26. Mai 2012.)
Der Serbe Ivo Andrić (1892 – 1975) hat 1961 den Literaturnobelpreis für seine Novellen, Erzählungen, Essays und vor allem für seine Romane, in denen er das Leben in seiner bosnischen Heimat literarisch schildert, erhalten. In Dolac bei Travnik geboren, ist er mit der Geschichte des Balkans groß geworden. Und diese Geschichte beherrscht auch den Großteil seines literarischen Werkes.
Die Erzählung Prokleta avlija ist 1954 entstanden und 1957 in Deutsch als Der verdammte Hof erschienen. Für die Übersetzung zeichnen Milo Dor und Reinhard Federmann. Der Surkamp Verlag hat 1962 eine neue Auflage herausgebracht.
Auch dieses Buch hat die Geschichte des Balkans als thematischen Hintergrund, doch nicht unmittelbar die bosnische, serbische, albanische oder kosovarische, sondern einen Geschichtsabschnitt jenes Volkes, das im 15. Jahrhundert Europa an seiner Südostflanke massiv bedrohte – die Türken.
Der Aufbau der Erzählung entspricht dem Aus-drittem-Munde-Prinzip. Beim Aufräumen in der Klosterzelle des soeben zu Grabe getragenen Bruder Petar, ein „berühmter Uhrmacher, Waffenmeister und Mechaniker mit großer Leidenschaft“, erinnert der noch junge Bruder Rastislav sich an die Erzählungen des Verblichenen.
Dieser hatte ein Lieblingsthema, und das hieß Der verdammte Hof. In diesem am Stadtrand Istanbuls gelegenen Gefängnis musste der, einer Intrige zum Opfer gefallene, christliche Mönch Petar vor vielen Jahren eine Haftstrafe absitzen. Einige der Menschen, die er dort vorfand oder denen er begegnete, haben ihn nie mehr losgelassen und er erzählte seinen Mitbrüdern immer wieder von ihnen.
Ob es der „Direktor dieser seltsamen und grausamen Institution, Latif Aga, genannt Karadpos“ war, oder der anhängliche Chaim, der eingebildete Frauenheld Zaim und so mancher andere, alle lebten in der Erinnerung Bruder Petars weiter. Das Schicksal eines jungen Mannes, Sohn eines Türken und einer Griechin, aus Smyrna beschäftigte ihn aber in besonderem Maße.
Djamil soll ein sehr belesener Mensch gewesen sein. Die Geschichte der Osmanen lag ihm am Herzen und dafür hat er „zwei Jahre mit Studien in Istanbul“ verbracht. Besonders das Schicksal des gescheiterten Thronanwärters Dschem, ein Sohn Mohammeds II., der Eroberer Konstantinopols, und Bruder Bajezids II., interessierte ihn. Und genau daraus hat ein kleinherziger Bürgermeister aus Smyrna ihm einen Strick gedreht und aus Djamils Hingabe für Dschem eine Verschwörungstheorie gegen das damalige türkische Regime – es könnte so um die zwanzigste Jahrhundertwende gewesen sein – gedreht.
Ivo Andrić erzählt also durch die letztendlich im Wahn endende Leidenschaft Djamils einen Aspekt des eigentlich immerwährenden Machtkampfes um den türkischen Thron im 15. Jahrhundert. Er erzählt, „dass Sultan Mohammed den jüngeren Sohn lieber gehabt und auch gewünscht hatte, dass er sein Nachfolger werde“. Spricht hier serbischer Nationalstolz? Das wäre natürlich auch bei einem Nobelpreisträger nur menschlich. Dschems Mutter stammte nämlich aus „fürstlichem serbischen Geschlecht“. Von den Charakterzügen dieses Sultananwärters erzählt Ivo Andrić nichts.
Umso mehr aber Nicolae Iorga (1871 – 1940) in seiner Geschichte des Osmanischen Reiches (Verlag Gotha, Perthes, 1908 -1913). Er widmet dem schließlich in Rom gelandeten „Dschem, der Freund der Dichter, der selbst in die Geheimnisse morgenländischer Poesie eingeweiht war“, ein ganzes Kapitel. Und darin kann man auch folgende Charakterisierung, die Iorga anderen Quellen entnommen hat, nachlesen: „Man wies ihm eine gut bewachte Wohnung im Vatikan an, den sein Vater Mohammed einst als Sieger zu betreten geträumt hatte, um der gesamten Priesterschaft den Fuß auf den Nacken zu setzen. Hier gewährte man ihm in seinem faulen, Vergnügungen allerart ergebenen Leben allen Vorschub: [...] weil er nach ausgiebigstem Schlafe fünfmal am Tag zu speisen, dabei mit untergeschlagenen Beinen dazusitzen, die Bissen mit den Händen zu nehmen, sich an süßem Weine zu berauschen, die Dienerschaft mit Schlägen und Schwerthieben zu züchtigen und wilde Musik und bald traurige, bald einer vergänglichen Liebe gewidmete unverständliche Verse zu machen pflegte.“
Zu solchen Äußerungen konnte Andrićs Held Djamil sich über seinen angebeteten Dschem natürlich nicht hinreißen lassen. Bei ihm dominierte das Bedauern, und zwar so sehr, dass er zum Schluss glaubte, selbst Dschem zu sein und dessen Prätendenten-Schicksal erleiden zu müssen.

Anton Potche

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