Donnerstag, 12. April 2012

Zusätzliche Kopfbilder aus der eigenen Vergangenheit

Was würde unsereins wohl bewegen, wenn wir unverhofft in dem Ort unserer Kindheit landen würden? Eine höchst individuelle Frage, die auch nur absolut personenbezogen beantwortet werden kann. Würden wir uns heimisch fühlen, oder fremd, oder würden wir eine vertraute Fremde vorfinden? Ausschlaggebend dürfte dabei die Situation des Zurückkehrens sein. Sind wir allein oder in Gesellschaft? Um das Verschmelzen mit der Örtlichkeit und den unvermeidlich dabei aufsteigenden Erinnerungen in seiner maximalen Wirkung erleben zu können, muss man wohl allein sein.

Der Comic-Zeichner Thomas ist allein, als der Zufall ihn in seine fast schon vergessene Heimat führt. Es ist natürlich nichts mehr so, wie es war. Und die Bilder der Vergangenheit pochen auf ihr Recht. Sie kommen. Und so lässt Sam Garbarski dem heimgekehrten eine Vertraute Fremde im gleichnamigen Film angedeihen. Der in Deutschland geborene und in Belgien lebende Regisseur hat einen sehr ruhigen, melancholischen Film gedreht, der 2010 in die Kinos kam und als DVD erhältlich ist. Auch beim Drehbuch zeichnet er neben Jérôme Tonnerre und Philippe Blasband als Verfasser.

Dass der Hauptheld ein Comic-Zeichner ist, kommt nicht von ungefähr. Als Inspirationsquelle zu diesem Film diente dem Drehbuchteam der Manga Haruka Na Machi He, zu dt. Vertraute Fremde, des Japaners Jirō Taniguchi. Das Comic-Buch ist 2007 bei Carlson erschienen.

Der unter einer Schaffenskrise leidende Comic-Zeichner (Pascal Gréggory) taucht am Grabe seiner Mutter (Alexandra Maria Lara) in seine Teenagervergangenheit, jene schwere Zeit der Pubertät, in der Freud und Leid ein schier unentwirrbares Gefühlsknäuel bilden. Thomas (Léo Legrand) findet zwar Verständnis bei der fürsorglichen Mutter – einfach ergreifend der Gefühlsausbruch des Jungen beim Wäscheaufhängen im Hof -, leidet aber unter der Kälte des Vaters (Jonathan Zaccaï).

Sam Garbarski lässt in einigen Szenen Vergangenheit und Gegenwart nebeneinander einherschreiten, so als könnten sie ohne die Existenz der jeweils anderen nicht existieren. Sie brauchen sich gegenseitig, suchen Stütze, denn weder die Jugend- noch die Erwachsenenzeit des Haupthelden sind glücklich verlaufen. Es herrschte fast immer eine gedrückte Stimmung in der Familie. Das Vertrauen zueinander fehlte einfach zwischen den Ehepartnern, und das übertrug sich auf die Gemütslage der zwei Kinder, Thomas und seine kleinere Schwester Corinne (Laura Moisson).

Dementsprechend sind auch die Dialoge. Es herrscht ein leiser Grundton im ganzen Film. Eine vertraute Fremde teilt sich nun mal Vertrautheit und Fremde. Und in der Fremde agiert man eben zurückhaltender, da fehlt schon etwas an der heimischen Selbstsicherheit, und wenn die Vertrautheit der zurückfliegenden Gedanken dann auch noch überwiegend bedrückende Bilder transportiert, dann kann ein Film nur so und nicht anders gedreht werden. Wer sich diesen Streifen zu Gemüte führt, gewinnt 90 Minuten Ruhe und – individuell bedingt – vielleicht sogar zusätzliche Kopfbilder aus der eigenen Vergangenheit.

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