Montag, 5. März 2012

Orchester, Solist, Dirigent und ausgefeilte Übertragungstechnik – eine glückliche Symbiose

Das sind schon unterschiedliche, zum Teil sogar wesensfremde Faktoren, die in einem Konzert aufeinandertreffen. Man muss das gar nicht weiterhin vertiefen, wenn man nur an die vielen Musiker eines großen symphonischen Orchesters denkt, die alle individuell ausgeprägte Persönlichkeiten sind und sich für die Dauer eines Konzertes voll und ganz dem Dirigenten unterordnen müssen. Die vorher in Proben zu Kompromissen zusammengeführten Auffassungsunterschiede kommen bei der Aufführung nicht zum Vorschein. Auch, dass Vorstellungen und Empfinden von Dirigent und Solist oft auseinanderliegen, muss dem Publikum verborgen bleiben. Zu all dem kommt der Anspruch der Technik, gewisse Freiheiten zu bekommen, um ein Konzert in alle Welt zu übertragen.

Live ist live, heißt es immer. Dem ist auch nichts entgegenzusetzen. Nur scheint das unmittelbare Erlebnis von Musik im Begriff zu sein, eine Steigerung zu erfahren. Die Stichworte dazu wären „High Definition-Bild“ und „Surround Sound“. Sie sind die Basis jener Übertragungstechnik, die eine geglückte Orchester-Solist-Dirigent-Symbiose zu einem unvergesslichen Konzerterlebnis werden lassen kann. Und das im... Kinosaal.

Die Berliner Philharmoniker haben diesen Schritt in den digitalen Konzertsaal längst gewagt. Einige ihrer Konzerte werden live in ausgewählten CineStar-Kinos übertragen. Gestern ward so auch in Ingolstadt der Saal Nr. 5 zum Konzertsaal. Für 90 Minuten klassische Musik auf Weltniveau hatten wir, meine Frau und ich, uns zeitlich eingestellt, mit Pause. Die Programmankündigung im Internet deutete auf diesen Zeitaufwand hin... und wir lagen falsch damit.

Am Saaleingang lag ein Programmblatt, das uns schon mal eine Vorahnung von einem „spätromantischen Abend“ vermitteln sollte: „19:30 Uhr Beginn Vorprogramm mit Live-Moderation aus der Philharmonie, 20:00 Uhr Beginn Konzert - Richard Strauss: Oboenkonzert, 20:35 Uhr Pause, 20:45 Uhr Pausenprogramm mit Live-Moderation aus der Philharmonie, 21:00 Uhr Beginn Konzert Teil 2 – Anton Bruckner: Symphonie Nr. 4 „Romantische“, ca. 22:20 Uhr Ende, da es sich um eine Live-Übertragung handelt, können die Zeiten variieren“. So schnell können aus neunzig hundertsiebzig Minuten werden oder, anders gesagt, wird man Opfer seiner eigenen Naivität. Die Kunst macht’s möglich. Und wie!

Würde ich doch immer solchen Fehleinschätzungen zum Opfer fallen. Schon die Moderation war ein Genuss. Kein Fernsehstar, kein bekannter Kabarettist, kein Nachrichtenmoderator, keine bekannte Stimme aus irgendeinem Radiokulturkanal, sondern „nur“ ein Mitglied der Berliner Philharmoniker, 3. Hornist, wenn ich mich gut entsinne. Und wie der Mann das machte! Sprachlich auf einem Niveau, das selbst Goethe vor Neid erblassen ließe, humorvoll und in allen Facetten seines Auftrittes gewinnend für das anstehende musikalische Ereignis. Klaus Wallendorf, sein Name.

Das Konzert für Oboe und Orchester schrieb Richard Strauss (1864 - 1949) im Jahre 1946. Es gehört also zu seinen späten Werken. Von Strauss ist die Aussage überliefert: „Der melodische Einfall, der mich plötzlich überfällt, erscheint in der Phantasie unmittelbar, unbewusst. Es ist das höchste Geschenk der Gottheit.“ Nur ist es so, dass die dann entstehenden Melodien, nicht unbedingt Ohrwürmer sind. So auch in diesem Konzert für Oboe.

Umso mehr muss man diesbezüglich die Leistungen des Solisten, Dirigenten und Orchesters (eine kleine Besetzung) würdigen. Albrecht Mayer (*1965) ist es durch sein Spiel gelungen, die Aufmerksamkeit des Zuschauers so zu fesseln, dass wohl kaum jemand das Fehlen eines sofort zum Mitsummen anregenden Themas vermisst hat. Das gilt besonders für die Konzertbesucher in den Kinosälen. Die profitieren nämlich voll von den beeindruckenden Nahaufnahmen, die ihnen die Übertragungsmannschaft liefert. Man konnte das Entstehen von Musik im Allgemeinen und das eines Solovortrages im Besonderen „hautnah“ miterleben. Albrecht Mayer, selbst Mitglied dieses Orchesters, meinte im Vorprogramm augenzwinkernd , Richard Strauss hätte die Oboe „leider“ sehr gut gekannt. Das kann man wohl sagen, denn die technischen Möglichkeiten dieser Blasröhre mit der komplizierten Klappentechnik sind in diesem Stück so gut wie ausgeschöpft. Dass Albrecht Mayer aus seinem Vortrag ein musikalisches Erlebnis höchster künstlerischer Qualität gelang, bewies der Wunsch des Publikums nach einer Zugabe. Die sollte es auch in einem Bach-Stück erhalten. Christian Thielemann dirigierte beide Werke... Ja, ein Teenager würde sagen, der Typ ist cool.

 Anton Bruckner (1824 - 1896) komponierte seine Symphonie Nr4. in Es-Dur im Jahre 1874. Drei Fassungen hat er von diesem Werk angefertigt. Die dritte, heute als Originalfassung anerkannt, ließ allerdings sechs Jahre auf sich warten. Und dann schienen die Verleger mit einer Veröffentlichung zu zögern. Es sollten weitere zehn Jahre vergehen, bis es zur ersten Drucklegung kam.

Obwohl Bruckner kein Freund der Programmmusik war, hat er dem 1.Satz (Bewegt, nicht zu schnell) ein paar Anmerkungen vorangestellt, die da wären: „mittelalterliche Stadt in der Morgendämmerung, Morgenweckrufe, Reiter sprengen auf stolzen Rossen hinaus, Waldesrauschen, Vogelgesang“. Christian Thielemann sagte im Pausenprogramm, er hätte überhaupt nichts gegen Bilder, die im Kopf des Konzertbesuchers während einer Aufführung entstünden, und die könnten natürlich unterschiedlich sein. Sind sie auch. Als die Hörner zu ihrem ersten Höhenflug ansetzten, dachte ich sofort an die Alpen. Und als der 2. Satz (Andante, quasi Allegretto) mit diesen filigranen Pizzikatobegleitungen begann, sah ich leise rauschende Bächlein. Lediglich im 3. Satz (Scherzo, bewegt) schienen meine Kopfbilder jenen des Komponisten zu ähneln. Mit Hörnern verbindet man intuitiv die Jagd. Bruckner soll selbst einmal vom „Jagd-Scherzo“ gesprochen haben. Der 4.Satz (Finale, bewegt, doch nicht zu schnell) ist eine einzige Wucht, die dir die Sinne nimmt. Nicht von ungefähr wird in der dritten Werkfassung auf den Einsatz von drei Trompeten (Thielemann hatte vier im Einsatz), drei Posaunen und Basstuba hingewiesen.

Es ist wirklich hinreißend, wie Christian Thielemann (*1959), zurzeit Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle Dresden, Musik gestaltet und Musik erlebt. Dabei sind seine Bewegungen eher sparsam. Nach eigenem Bekunden, soll es früher auch anders gewesen sein. Gestern Abend bildete er mit dem Orchester wirklich die glücklichste Symbiose, die man einem solchen Konzert angedeihen lassen kann. Wie schaffen die es nur, so leise zu spielen... und doch noch hörbar? Ich frage mich, ob Kinobesucher nicht bei solchen der Lautlosigkeit nahen Stellen gegenüber den Konzertbesuchern in der Berliner Philharmonie im Vorteil sind.

Mit 72 Minuten geben einschlägige Konzertführer die Spielzeit von Bruckners Romantische an. Ich habe die Zeit nicht gestoppt; sie war bei dieser Aufführung gefühlsmäßig aber viel, viel kürzer, zu kurz. Schuld daran waren die Berliner Philharmoniker und ihr Gastdirigent, der nach dem Schlussakkord sichtlich bewegte  Christian Thielemann. Wie könnte es bei einem Berliner Kind auch anders sein?

In der ausverkauften Konzerthalle brandete nicht enden wollender Applaus, gemischt mit Bravorufen, auf. Nicht ganz ausverkauft war der Saal Nr. 5 im CineStar- Ingolstadt. Von 200 Plätzen waren noch 185 frei. Die Gekommenen wurden von dem charmanten Herrn Klaus Wallendorf auf den Heimweg verabschiedet. Und das nicht ohne den freundlichen Hinweis: "Kino ohne Philharmoniker ist wie Schach ohne Würfel." Darauf mussten die Konzertbesucher in der Berliner Philharmonie leider verzichten.


Anton Potche

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