Sonntag, 4. September 2011

Ein gutes Wort im Wald zu Ingolstadt


Mit dem Herbst kommt die Freude am Fühlen. Zumindest in Ingolstadt. Dafür hat auch heuer das Open-Flair-Festival gesorgt. Melodien und Rhythmen, Tänze, Verkaufsstände, viele Zelte, behaust von Menschen in geschichtlichen Gewändern, Bilder und anderes mehr sollten Sehen, Hören und Riechen zu einem freudigen Fühlen vereinen. Ein Festival der Sinne. Dass die schon vom ursprünglichen Konzept her angestrebte Multikulturalität in den letzten Jahren immer mehr einer Darstellung verschiedener Geschichtsepisoden – deutscher natürlich – weichen musste, scheint den Publikumszuspruch nicht gemindert zu haben. Auf der Strecke bleiben bei dieser Entwicklung wohl aber die Ansprüche kulturhungriger Zeitgenossen. Das wirkt sich auf so ein VielFühlFestival (Programmheft) aber in keiner Weise negativ aus, denn es handelt sich eh nur um eine verschwindend kleine Minderheit, die ein Kultur-pur-Erlebnis einer Biergartenatmosphäre vorzieht.

Gut zu beobachten war das heute Morgen im Literaturzelt. Wort im Wald hieß die Veranstaltungsreihe, die im Schatten der alten Bäume etwas von dem zu vermitteln versuchte, was man wohl als unverfälschtes Kulturerlebnis mit nach Hause nehmen kann. Ein Literaturfrühschoppen war angesagt, um 11.00 Uhr. Auf dem Podest saßen drei Männer und im Zelt verloren sich weniger als zwei Dutzend Zuhörer. Dabei war das Diskussionsthema durchaus vielversprechend: Manie – Genie – Die Leiden der Schriftsteller.

Und wirklich, wer zuhören kann, kam auf seine Kosten. Harald Kneitz, der Literaturfachmann des Ingolstädter Kulturamtes, regte seine zwei Gesprächspartner, Schriftsteller Akos Doma und Arzt Prof. Dr. Wolfgang Hartmann, zu einer sehr lehrreichen, unterhaltsamen und zum Teil auch kontrovers geführten Diskussion an. Der Schriftsteller scheint von der Handwerksschriftstellerei, wie man sie im Leipziger Literaturinstitut erlernen kann, nicht besonders angetan zu sein. Da fehle ihm dann bei vielen doch die Leidenschaft zum Schreiben, obwohl er trotzdem gerne einräume, dass bei Genies oft vergessen wird, dass harte Arbeit hinter ihrem Schaffen steckt.

v.l.: Akos Doma, Harald Kneitz,
Prof. Dr. Wolfgang Hartmann
Der ehemalige Chefarzt des Klinikums Ingolstadt vertritt die Meinung, dass Literatur autobiographisch stark geprägt sein sollte: „Der Künstler muss in der Welt sein.“ Daraufhin meinte Akos Doma, das Fiktionale käme bei einigen zeitgenössischen Autoren eben durch eine zu starke Fokussierung auf das Autobiographische bereits viel zu kurz.

Und so ging es munter hin und her. Goethe und Kleist geben schon einiges zum Thema Manie, Genie und natürlich Leiden her. Prof. Dr. Hartmann ist ein sehr belesener Mediziner und als er Werther und die Folgen seines Erscheinens in der Literatur ansprach, konterte Doma mit dem kleinen aber feinen Unterschied, dass „Goethe sich nur im Werther, während Kleist sich tatsächlich selbst umgebracht habe“. Es blieb im Verlauf des Gesprächs natürlich nicht bei Goethe und Kleist. Musil, Thomas Mann, Dostojewski, Hamsun und andere Größen der Zunft fanden Erwähnung und dienten als Beispiel oder Vergleich für die eine und andere Stellungnahme der Gesprächspartner. Harald Kneitz moderierte sehr zurückhaltend, seine Interventionen zeugten aber von hohem literarischem Sachverstand.

Gute Gespräche führen zum Verlust des Zeitgefühls. Eine Stunde war im Nu vorbei und das Thema natürlich bei weitem nicht ausdiskutiert, denn „es ist unerschöpflich“, wie Prof. Dr. Wolfgang Hartman vor dem Schlusswort des Moderators meinte. Nach zwei interessanten Wortmeldungen aus dem Publikum begaben sich die wenigen Zuhörer, zwei oder drei waren noch hinzugekommen, auf den Weg in die VielFühl-Menge, wo Essen, Trinken, Tanzen, und Flanieren letztendlich den Erfolg auch dieses Festes ausmachen werden. Zumindest sie haben auf diesem Festival eine Kulturform in Reinkultur erlebt: ein sehr gutes Gespräch über einige Aspekte der Literatur.
Anton Potche


Fotos & Video: Anton Potche


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