Samstag, 22. Mai 2010

Auf der Psychocouch

"Das war mehr wert als die beste Couch eines Psychiaters."

Dieser Satz hat mich tagelang beschäftigt. Ein Musikant der ehemaligen Kaszner-Kapelle hat ihn kürzlich in der Pause einer Probe der Audi-Bläserphilharmonie dahergesagt, als wäre er das Selbstverständlichste dieser Welt. Und wahrlich: er, der Satz, gibt einem Empfinden Ausdruck, dessen ich ebenso intensiv teilhaft geworden war, ohne je eine tiefergehende Erklärung dafür zu finden, obwohl ich immer danach suchte. Was machte mein (unser) Leben in dieser damaligen Musikkapelle so einmalig, so unvergesslich?

Nun ist der Mann, der mir diesen Schlüssel zur Tür in eine bewegte Vergangenheit gab, 10 Jahre jünger als ich. Also handelt es sich nicht mehr um eine Augenblickswahrnehmung, vielleicht eine nostalgische Gemütswallung, sondern um ein Phänomen, das damals einer Lebensform entsprach, die einem erst jetzt, mehr als 30 Jahre danach, bewusst wird.

Wir lebten in einer Diaspora. Die Kapelle war für uns ein Papierschiffchen auf stürmischer See und es dauerte lange, bis es sank. Sein Geist steigt aber immer wieder aus den Tiefen und überzieht die Überlebenden mit einem Schauer, der oft auch den Hartgesottensten eine Gänsehaut über den Rücken jagt.

Die Traumata der kommunistischen Diktatur haben wir nur in abgeschwächter Form mitbekommen. Bespitzelung einerseits und Auflehnung andererseits waren politisch grundierte Vorgänge, die sich außerhalb des Diasporaschiffleins abspielten - obzwar man heute weiß, dass sie auch im nahen Umfeld stattfanden. Wenn ich jetzt versuche, mir diese Jahre (1970/80) in Erinnerung zu rufen - das ist insofern nicht schwer, als sie nur auf einen Abruf warteten -, dann leuchtet mir Walter Rosners Psychocouchtheorie ein.

In den Proben für die "Musikantenbälle" (Konzerte)  war der Alltag für Stunden, die oft erst um Mitternacht endeten, schlicht vergessen. Das galt natürlich, sogar verstärkt, auch für die vielen Auftritte. Bühnenpräsents ist eine Sucht. Wer dort oben steht, wird von einer seltsamen Entrücktheit befallen. Ich erinnere mich, dass selbst existentielle Versorgungsfragen - bekomme ich morgen Fleisch oder Brot, Milch oder Butter, Holz oder Heizöl usw? - einem kurzen Ausblendungsprozess als abgespeckte Form des Vergessens anheim fielen.

Echtzeit. Damals kannte ich das Wort noch nicht. Es gab ja auch keine EDV für den Hausgebrauch. Heute weiß ich, dass diese Realzeit unser Fühlen und Handeln passgenau beschreibt. Das Miteinander auf der Bühne - viel öfter harmonisch, als frustriert - war begrenzt, zeitbegrenzt. Meist war die Zeit angegeben, also Echtzeit, in der das Bühnensystem, in dem wir so glücklich und alltagssorgenfrei waren, funktionierte. In dieser echten Zeitspanne waren wir andere Menschen, bauten im Alltag aufgestaute Agressionen oder Depressionen ab und sammelten neue Kräfte der Sorglosigkeit für den Tag nach der Musik-Echtzeit. So konnte der Kommunismus mit all seinen negativen Erscheinungen uns nur bedingt etwas anhaben. Wir waren vom Alltagsgeschehen losgelöst wie der Patient auf der Couch des Psychiaters.

Heute, fast auf den Tag genau, vor 38 Jahren marschierten in Jahrmarkt Kirchweihpaare auf die Marschmusik der Kaszner-Kapelle durch die Dorfgassen. Ein beispielloser Kampf um die musikalische Gestaltung dieses Festets hatte das Dorf in seinen gesellschaftlichen Fundamenten erschüttert. Kaszner oder Loris war die lange und bange Frage. Kaszner, lautete die Antwort der Behörde. Wie es letztendlich dazu kam? Echt balkanisch, würde ich sagen. Wer den Jahrmarkter Dialekt versteht, kann es, dem folgenden Link folgend, im Detail nachlesen: So sin die Stumpiche in Johrmark zu der Kerweih kumm.

FotoQuellen: Archiv Kaszner-Kapelle

Morgen, am 23. Mai 2010, treffen sich viele Musikanten der Kaszner-Kapelle in Jahrmarkt. Die meisten werden ihre Lebensgefährtinnen dabei haben und so manche auch ihre Kinder. Auch andere ehemalige Dorfbewohner haben ihr Kommen gemeldet. Im "Kamin" wird ein Familienfest über die "Bühne" gehen, wie es das Dorf seit dem Auswandern der Deutschen nicht mehr gesehen hat. 38 Jahre, fast auf den Tag genau, nach der denkwürdigen "Kerweih" in Jahrmarkt sind viele Ehemalige aus der deutschen Leistungsgesellschaft ausgebrochen, um sich auf die wohltuende Psychocouch des Jahrmarkter "Kamins" zu legen - sprich, um zu erzählen, musizieren, tanzen, essen, trinken und um durch die Dorfgassen zu spazieren. Viele werden die Kirche und die beiden Friedhöfe besuchen, vielleicht auch die Schule, die Feuerwehr, das Probezimmer des Kaszner-Anwesens, falls es noch existiert, und, und, und... Eine bessere Therapie für Heimwehgeplagte hatte mit Sicherheit auch Sigmund Freud nicht anzubieten.

Und das war die "Kerweih" in Jahrmarkt im Mai 1972 (Video auf YouTube) oder anders gesagt, das ist das Kopfkissen meiner Psychocouch.


Anton Potche

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